In einem grauen Dorf in den Bergen.
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Seit vier Tagen liegt das Dorf schon im Nebel, nein, in den Wolken. Das könnte ich ziemlich eindrucksvoll sehen, wenn ich nur knapp fünfzig Höhenmeter weiter hinaufginge am Berg. Dann liegt unter mir das Tal, das ganz mit Wolke gefüllt zu sein scheint. Heute ist der fünfte Tag, an dem man kaum zehn Meter weit sehen kann. Trotzdem drehe ich meine Runde draußen; ich habe zwar keinen Hund auszuführen, will und muß die Wohnung aber jeden Tag für ein oder zwei Stunden verlassen. Seit ich vor einigen Wochen in dieses Dorf gezogen bin, habe ich das trotz der zum Einzug notwendigen Arbeit täglich geschafft. Seit zwei Wochen gehe ich immer den gleichen Weg, muß nichts anderes mehr erkunden. Ich will nur noch um unsere Häusergruppe herumgehen: Vorm Haus nach rechts bis zum Dorfplatz, wo ich meine notwendigen Einkäufe erledigen kann, stehen fünf Häuser. Dort biege ich um 180 Grad nach rechts ab und gehe auf der Parallelstraße an den Häusern vorbei, die hinter denen an unserer Straße stehen. Am Ende der Straße ist dann ein altes Gehöft, das zu jeder der beiden Straßen hin offen ist. Ich habe nachgefragt, ja, jeder darf durch den Hof gehen, um von der einen zur anderen Straße zu kommen. Und von da aus geht es an zwölf Häusern vorbei zurück bis zum Haus, in dem ich seit Kurzem im ersten Stock wohne.
Immer der gleiche Weg. Seit zwei Wochen. An einer bestimmten Stelle gehe ich auf die andere Straßenseite, bleibe eine Weile stehen und rauche eine Zigarette. Erst danach gehe ich weiter. Und während ich rauche, beobachte ich so unauffällig als möglich die an jenem Haus seitlich angebaute, teilweise überdachte Terasse. Sehe ich aus meinem von unserer Straße abgewandt liegenden Schlafzimmer nach rechts zum Fenster hinaus, so sehe ich genau diese Terasse schräg von oben. Ich sehe die dort oft hängende Wäsche, und manchmal kann ich einen Blick auf die rothaarige Frau erhaschen, die dort wohnt. Ich sah sie auch schon, als ich rauchend auf dem Fußweg stand. Bei solchem Nebel wie heute traue ich mich, direkt am Zaun des Hauses entlangzugehen, sehr, sehr langsam entlangzugehen. Und zufällig sehe ich, wie sie, die bei jedem Wetter ihre Wäsche auf der Terasse zum Trocknen aufhängt, gerade Wäsche abnimmt. Etwas grau, etwas undeutlich durch den Nebel hindurch. Aber ich erkenne, daß auch heute zwar Slips, aber nicht ein einziger BH zur Wäsche gehören, wie immer, seit ich hier wohne. Beziehungsweise seit ich sie entdeckt habe mit ihren flammenden Locken.
Morgen ist Sonnabend. Morgen werde ich wieder meine Runde gehen. Morgen fasse ich mir ein Herz und klingele bei ihr. Morgen stelle ich mich bei ihr vor als ihre neue Nachbarin. Und es wird mir egal sein, ob auch morgen wieder alles in der grauen Wolkensuppe hängt: Morgen schaffe ich es endlich.
Erinnerung des Tages:
Ich habe es in meinem Leben bisher nur ein einziges Mal geschafft, von oben auf eine geschlossene Wolkendecke zu sehen: vom Auersberg hinab ins Tal nach Sosa.
Mit einem Danke fürs Lesen schleiche ich mich davon.
P.S.: Am 19. Januar 2025 war ich zufrieden mit Schreibübungen, mit ausreichend Kreativität, mit Bockwurst und Brot.
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