Nº 168 (2019): Ein Zwitter

Was gefühlt wird innendrin.

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In mir ist eine Traurigkeit, der ich nichts entgegenzusetzen habe. Ich bin sicher, daß das nicht die Depression ist, nein, die fühlt sich anders an. Das hier ist etwas Melan­cholisches, vielleicht an diese eine – an die! – uner­widerte Liebe erinnernd, sogar an unerwiderte Selbstliebe – aber Selbstliebe ist ein sonderbares Wort. In dieser Traurigkeit spielen Haupt­rollen: Sehnsucht, Müdigkeit, zärtliches Gefühl, Freude, Gönnen, Vermissen, Suchen nach etwas, von dem ich nicht weiß, was es sein könnte, Erschöpfung, Hoffnung und Zuversicht, Wissen um die Schön­heit dessen, was nicht sein darf, aber so sehr gewollt ist. Weil aber weder Sinnlosigkeit noch Grübeln oder Antriebslosigkeit zum Ensemble gehören, ist es meiner Meinung nach keine Depression. Vielleicht ist es eine reifere Form von Liebeskummer, ohne den brennenden Schmerz und den Haß, die in der Jugend zum Liebeskummer gehörten wie der Rauch zum Feuer. — Ach, ich weiß nicht, was genau diese Traurigkeit ist, woher sie kommt; selbst die Vermutungen sind nur vage, sehr vage.

Ist es ein Abschiedsschmerz, der zu einem Abschied gehört, den ich nie wollte und nicht will, von dem Teile von mir schon Ahnungen haben, den ich aber noch nicht sehe? Kann sein. Nur ein Abschied fällt mir ein, der so wirken könnte. Doch eben jenen will ich nicht, denn mit diesem Abschied würde die Hoffnung verloren sein, die mich jetzt fast 25 Jahre begleitete und immer wieder an die Schönheit und Leichtigkeit des Lebens erinnerte und weiter begleitet und erinnert. Die Träume würden mir vielleicht bleiben, doch jegliche Erfüllung wäre pure Illusion, hoff­nungslose Illusion. Es blieben nichtmal die kleinen Momente, in denen ich von der Möglichkeit des anderen Lebens überzeugt werde, wenige Momente, in denen ich dieses andere Leben auskosten darf. Nein, all das wäre (wieder) ganz tief in mir zu vergraben oder müßte gar von mir aus mir herausgerissen werden.

In mir ist eine Traurigkeit, eine sanfte, nachtdunkle Traurigkeit, deren Himmel mit Sternen übersät ist und in der ein Lüftchen geht und Nachtigallen singen. Eine Traurigkeit, in der nichts, wirklich nichts vom nachfolgende Morgen zu finden ist. Sie ist da, sie ist groß, und ich will sie nicht mein ganzes Leben übernehmen lassen. Tanzen möchte ich lernen, Standardtänze zum Beispiel; dann versuchte ich, mit meiner Traurigkeit zu tanzen und sie sanft zu führen in einem Rhythmus und in eine Richtung, den und die ich mag, immer herum um die besonders finsteren Bereiche der Tanzfläche, die Leben heißt, hinein in die hellen Flecke des Glücks und der Zufriedenheit. Und in diesem Licht möchte ich sie ansehen und feststellen: Die Tränen, die meiner Traurigkeit übers Gesicht laufen, sind Freudentränen eines leisen, stetigen, immerwäh­renden Glückes.

In mir ist eine Traurigkeit, die ich nie vermissen möchte; nur jetzt gerade bitte ich sie, ihre Hände von meinen Augen und von meinem Herzen zu nehmen, damit ich wieder etwas sehen kann vom Weg, der vor mir liegt und hinter mir am anderen Ende der Wahrheit …

 

 

Ich weiß diesmal nicht so recht, ob der Text in den grauen Kasten gehört (dort stehen üblicherweise nur meine ∗räusper∗ “literarischen” Texte). Er – also dieser Text – ist ein Zwitter: einerseits etwas von mir Erlebtes, andererseits … nun ja, ganz anders erzählt; einerseits meins, andererseits verallgemeinert und verschönert fremd.

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

P.S.: Am 17.06.2019 waren positiv Frühstück mit besonderen Semmeln, zwei getroffene Absprachen, eine Einkaufstour.
 
Die Tageskarte für morgen ist der König der Stäbe.

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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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16 Antworten zu Nº 168 (2019): Ein Zwitter

  1. Nati sagt:

    Ich muss aufpassen dass mir keine Träne entfleucht,
    weil ich es verstehe und spüre diese Traurigkeit.

  2. Sofasophia sagt:

    Literatur darf durchaus biografisch riechen.

    Ein sehr berührender Text, dazu hochwertig geschrieben, ohne künstlich zu wirken.

  3. hummelweb sagt:

    Wunderschön geschrieben, dein verschönert fremder Eigentext 😉 ich persönlich finde es ja egal, wie „wahr“ ein Text ist, solange er mich nur berührt, und das tut dein Text definitiv!

  4. wildgans sagt:

    Schönheit und Leichtigkeit des Lebens mal wieder spüren, ach ja, wie sehr will ich das! Deutliche Worte da, in deinem Text!

  5. frauholle52 sagt:

    Beim Lesen spüre ich meine eigene Traurigkeit um meinen verstorbenen Ex-Mann, die gerade wieder so groß geworden ist, weil einer seiner Kater, die bei meinem Sohn leben, vorgestern verschwunden ist. Du hast so liebevoll über die Traurigkeit geschrieben und ich empfinde sie ähnlich. Sie ist da, nicht immer angenehm, aber auch tröstlich. Weil mich das Gefühl verbindet.
    Liebe Grüße! Regine

  6. raphael sagt:

    Es ist so schön. Und es ist so traurig, diese Worte zu lesen. Dabei begegnen mir Sätze, die mir so oder ähnlich die letzten Wochen durch den Kopf gingen. Worte, von denen ich nicht nur weiß, wie man sie schreibt…

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