Der Kanten. Nº 232 (2016).

Ultreïa! Tag 11 – Wie groß die Angst war. #oekuweg

 

Diese Strecke lag vor mir – na gut, so ähnlich, denn der Besuch in diesem Laden in Dahlen war nicht geplant. Und wie jeden Tag brachte das Abweichen von der Ideallinie (irgendwann kann ich die GPS-Dateien vom Telefon hochladen – bis auf die von diesem Tag, da hab ich vergessen, das Tracken einzuschalten!) “ein paar Meter” mehr ein. Und dann gab es am Ortsausgang noch einen Landhandel, wo ich das Gekaufte auch bekommen hätte.

 

Der Tag begann ja schon ungewöhnlich früh, denn ich ging Punkt neun Uhr los – bisher war es meist zehn oder kurz danach. Und nach den ersten drei Kilometern stand da eine Bushaltestelle, an der in abwartbarer Zeit ein Bus gefahren wäre nach Oschatz, von wo aus mich der Zug von Dresden nach Leipzig bis Dahlen usw. usf. Ganze 3,20 Euro hätte es gekostet, in einer reichlichen halben Stunde in diesem Dahlen zu sein und die verbleibenden ca. 15 Kilometer Nichts zu umfahren. Ganze 3,20 Euro und meine … Ja, Selbstachtung. Es wäre so einfach gewesen, an der Haltestelle sitzenzubleiben und den leichten, unehrlichen Weg zu wählen.

Ich hatte doch gestern nicht umsonst alle möglichen Dinge gesucht und geplant, eine Variante bis Börln, in dem ich schließlich doch ankam, eine bis Dahlen, eine bis Lampertswalde. Bis Lampertswalde wollte ich auf alle Fälle gehen, von dort gab es ebenfalls eine Busverbindung, die mich nach Dahlen gebracht hätte. Und mit all diesen Planungen hatte ich die gewaltige 25-km-Strecke auf 20 km oder gar nur 13 km “entstigmatisiert”, noch dazu, da ich mich ständig an meinen ersten Gehtag von Görlitz nach Arnsdorf erinnerte, den ich schlußendlich doch auch geschafft hatte. Also: Ich wußte und weiß, daß ich es schaffen kann und schaffen werde. Schlimmstenfalls, im allerschlimmsten Fall hätte ich kurz hinter Lampertswalde sogar wild zelten oder in Lampertswalde in eine Pension einziehen können. Mehr Ungemach konnte mir nicht zustoßen. Es lag nichts vor mir, das ich nicht schon geschafft hatte.

Und dann ging ich. Da war rechts mal ein Wald, irgendwann danach linker Hand ein Irgendwas. Und ich ging und ging und ging und trank Wasser und dann die zweite Flasche Wasser und aß Trockenobst und Traubenzucker (Ich! Traubenzucker!), blieb ab und an stehen, nahm die Last vom Rücken, rauchte. Ging dann weiter. Denn ich wußte ja, daß ich die Strecken bis Börln schaffen kann. Und ich hatte mir immerhin acht Stunden (mit Reserve sogar zehn, denn um 19 Uhr hätte ich das Zelt aufgebaut, ein Hotel gesucht – eben den Weg für diesen Tag beendet). Ja, ich hatte zwei Grenzen, eine örtliche und eine zeitliche. Die zweite Flasche Wasser wurde in Lampertswalde leer, eine Oma, die in ihrem Vorgärtchen werkelte, sprach ich an und bat sie, beide wieder aufzufüllen. Es entspann sich ein kurzes Gespräch, das mit den Worten endete:“Mir sinn ja frieher ooch ze Fuß bis Oschatz oder Dahln gelaatscht … Komm gut hin, wode hinwillst.”

Erst nach der nächsten Kurve fiel mir auf, daß ich gerade in Lampertswalde war. Auf der Hälfte der Angststrecke, am frühesten Ausstiegspunkt. Einen Platz finden zur Rast war gar nicht so einfach. Irgendwann saß ich auf einem größeren Stein ein paar Meter ab vom Weg. Shirt, Socken, Schuhe und Füße trockneten. Ich legte auf der linken Gesichtshälfte Sonnenschutz nach (die ist trotzdem richtig rot geworden über den Tag), denn die die linke Seite war beim Marsch gen Westen die ganze Zeit der prallen Sonne ausgesetzt. Die Hälfte. Dieser Gedanke setzte sich fest, verband sich mit dem guten Gefühl in Beinen und Füßen und Kopf. Schließlich noch etwas Mobilat auf die Waden (hilft zwar nicht, wirkt aber psychisch) und dann wieder auf den Weg. Und weiterhin nicht ins Telefon sehen, nur die Karte nutzen! (Später bereute ich es, mich an diesen Vorsatz so streng gehalten zu haben. Aber ich hatte es nicht wie sonst in der Hosentasche, sondern im Rucksack untergebracht; es wäre ziemlich aufwendig gewesen, es herauszukramen.) Mit der Kamera habe ich ebenfalls kaum fotografiert, weil mir der Weg, das Gehen wichtig war.

Ohne Telefon hatte ich auch nicht wirklich ständig im Blick, wie spät es ist, wieviele Kilometer ich bereits gegangen war. Trotz der manchmal langen Strecken ohne Jakobsmuschelzeichen verlief ich mich nicht, kam irgendwie einen mir unwahrscheinlich steil erscheinenden Berg hinauf in den Ort Dahlen, suchte den überall verzeichneten Rewe, weil mein Tabak zur Neige ging, fand ihn nicht, wurde zu einem Penny geschickt, neben dem es eine Tankstelle gab, in der ich Tabak kaufte und eine Bockwurst aß, dann ging es die Strecke zurück auf den Weg, an dem dann doch noch ein Landhandel war, in dem es auch Tabak und Bockwurst gab – ein Punkt war erreicht, da ich mich sonst in den Arsch gebissen hätte, doch ich tat es nicht, ging vorbei und weiter. Kurz danach saß ich an einem Trafohäuschen, gegenüber vergnügten sich Färsen auf dem Gelände am Stall. Die Socken und Füße sind wieder trocken gewesen, dann ging ich weiter. Jetzt lagen noch etwa fünf Kilometer vor mir.

Die Dächer von Börln ware schon zu sehen, als ich mich an einem Strohlager mit großer Scheune nocheinmal ins Gebüsch schlug. Als ich herauskam, knatterte ein Moped herbei, der Fahrer wuselte auf dem Gelände etwas herum und sprach mich dann an. Ja, ich erfuhr mal wieder, was Menschen so tun (Mopeds aufbauen, mit Schrottautos Ackerrennen fahren, als LKW-Fahrer die Landwirtschaft mit dem Vater zusammen im Nebenerwerb betreiben und und und) und was im Dorf alles so ungewöhnliches geschieht. Für den einen Tip mit der Eisdiele allerdings war ich dankbar, schulterte nach einer Weile den Rucksack und wollte gehen. Aber er hatte noch so viel zu erzählen! Und mit einem kleinen schlechten Gewissen griff ich zur Notlüge, daß die Füße wehtun und ich jetzt dringend in die Herberge müßte und ging nach einem letzten Adieu.

Weit war es dann wirklich nichtmehr. Es gab ein Softeis für mich, zur Belohnung, nichteinmal 100 Meter vom Pfarrhaus entfernt. Beim Eisessen klärte ich meine Unterkunft, schaute danach noch schnell in das etwas weiter entfernte Schloßensemble und stand 16.15 Uhr vorm Pfarrhaus, wurde eingelassen, erhielt auf meine Bitte hin auch noch kurz die Möglichkeit, in die Kirche zu gehen, und ärgerte mich über das nicht eingeschaltete GPS-Tracking … Nein, stimmt nicht: ich ärgerte mich nicht, fand es nur etwas schade, daß mir dieser Tag in meinen Routen fehlen wird.

 

Meine Angst vor dem Kanten von 25 km: Woher kam die? Jetzt ist sie mir selbst unverständlich, zumindest teilweise, denn ich wußte doch die ganze Zeit, daß ich genau das schon geschafft hatte. Wieso sollte es heute also nicht gelingen? Warum mußte ich vorher so viele Notfallpläne machen? Haben die mir mehr Sicherheit gegeben? Ja? Nein? — Ich weiß es nicht. Schließlich war es mir an diesem Tag nur noch wichtig zu gehen, mit Obergrenzen, ja, aber ohne vorher bestehendes schlechtes Gewissen für einen “Versagensfall” der Streckenkürzung. Und vielleicht war das das Wichtige: daß ich mir von früh an gestattete, auch zur Hälfte der Strecke schon “genug” zu sagen; das beruhigte mich so sehr, daß ich eben erst nach der Hälfte merkte, daß das ja schon die Hälfte war, der erste Notausgang, der so überflüssig war wie jeder andere …

 

Der Emil

Der Verfasser des Blogs pilgert nacher weiter und dankt für’s Lesen.

P.S.: Die Strecke am 18. August 2016: Siehe Link am Textanfang.
 
Angst. Angst vor etwas, das ich schaffen kann und schon schaffte. Sonderbartes Ding.

© 2016 – Der Emil. Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
CC by-nc-nd Website (Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).

Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
Dieser Beitrag wurde unter #oekuweg, 2016, Erlebtes, One Post a Day abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

0 Antworten zu Der Kanten. Nº 232 (2016).

  1. Respekt

  2. Sofasophia sagt:

    Ich komm jetzt langsam auf den Trichter, warum wir beim Wandern nie Tagesziele nannten: Ich glaube, dabei gehts um Angstvermeidung – unbewusst.
    Vordergründe gab es viele.

    Wie du reflektierst, mag ich. Und deine Gelassenheit ist toll! Chapeau.

  3. wildgans sagt:

    Mir macht es Freude, einem, der offensichtlich tausend innere und äußere Widerstände überwunden hat und einfach, bzw. mit Fußunfall, losgelaufen ist!!

  4. wildgans sagt:

    Entschuldige, habe ein Wort vergessen – einfach dazudenken!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert