DDR-Lyrik: Abhängigkeiten (Nº 193 #oneaday)

Poesie aus DDR-Zeiten, Abhängigkeiten gestern und heute. Gedanken, unsortiert.

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Manchmal fällt mir in meinem Bücherschrank ein Buch in die Hand, in dem ich mich dann festlese. Gestern war es «Heliotrop», Gedichte von Eva Strittmatter (nebenbei auch Ehefrau des Erwin Strittmatter). Und an den «Abhängigkeiten» bin ich hängengeblieben:


 
Abhängigkeiten
 

Wir leben in einem System
Von Verbindlichkeiten und Abhängigkeiten,
Für das wir Steuern zahlen. Mit Recht. Allein
Können wir unser Recht nicht erstreiten.
Wir vertrauen darauf, daß Brot zu uns kommt
Und Strom für das Licht und die Wasserleitung,
Daß Papier produziert wird zum Druck des Gedichts
Und ebensogut für die Tageszeitung.
Der Müll soll weg sein, die Straße gekehrt,
Und Oper soll gehn jeden Abend um acht.

Wer sich über Abhängigkeiten beschwert,
Hat, was er bedarf, nicht richtig bedacht.
 

Eva Strittmatter: Heliotrop. Gedichte.
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1983, S. 63; Lizenznummer 301. 120/14/83
 
 

So saß ich da und stellte fest: / Es hat sich nicht viel verbessert. / Die Freiheit wurde wie der Rest / der Menschlichkeit verwässert.

Vor 28 Jahren. als dieses Gedicht erschien, war ich “eingesperrt” in einem ganzen Land, wird mir heute gesagt. Und heute? Heute darf ich nach ErreichbarkeitsAO erst nach Genehmigung durch die zuständige Behörde meinen Wohnort für einen Tag oder mehr verlassen, übrigens für ganze 21 Tage im Jahr. Wie die anderen Bezieher von ALG II (auch ergänzend als Aufstocker) oder Sozialgeld, und das sind etwa ein Drittel der DDR-Bevölkerung.

Heute soll ich in Freiheit leben. Aber heute bin ich von noch viel mehr abhängig als vor 28 Jahren.
 
Damals konnte ich in meiner Wohnung noch ohne Strom und Gas Wärme haben und Essen kochen.
 
Damals konnte ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln überall hinfahren in jenem Land. Heute brauche ich – um zum Beispiel an einen Arbeitsort zu gelangen – unbedingt ein Auto.
 
Damals mußte ich keine EC-Karte und kein Konto haben, ich konnte überall mit Bargeld bezahlen. Heute brauch ich eine solche elektronische Karte schon, um mir eine Schachtel Zigaretten am Automaten zu ziehen.

Damals hatte ich fünfzehn oder zwanzig Freunde, meist in der Nachbarschaft. Heute habe ich hunderte bei Facebook und Myspace und und und – aber wen davon kann ich einfach so auf ein Bier besuchen?

Nein. Ich wettere nicht auf den Fortschritt. Ich bin ganz zufrieden mit meinem Leben heute. Und ich habe da oben nur ein paar Beispiele aus meinem Erleben genannt. Andere haben anderes erlebt und erleben anderes. Gut so.

Ja. Es könnte besser sein, gesünder zum Beispiel, oder sicherer und weniger überwacht.

Und: Ich persönlich fühle mich heute abhängiger als vor 28 Jahren, zumindest aber ebenso abhängig wie vor 28 Jahren.

Und was meint ihr? Sind eure Abhängigkeiten in den letzten Jahren weniger geworden?

Der Verfasser des Blogs schleicht davon und dankt für’s Lesen.

P.S.: Positiv am 11. Juli 2011 war: Ich habe den Behördenkram erledigt, rechtzeitig.

© 2011 – Der Emil CC by-nc-nd der_emil(at)arcor(dot)de

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Über Der Emil

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0 Antworten zu DDR-Lyrik: Abhängigkeiten (Nº 193 #oneaday)

  1. Lieber Emil,
    dass erinnert mich an etwas was ich erst kürzlich gelesen habe.
    http://home.vr-web.de/was/x/frueher.pdf
    Das passt auch sowas von absolut zu deinem Blog.
    Ich denke, dass mir auch die Leser dieses Blogs recht geben.
    Früher war alles besser oder ich denke anders.
    Auf jedem Fall war unsere Kindheit spannender und aufregender.

    Einen schönen Dienstag den Lesern.

  2. Follygirl sagt:

    NEIN!
    Ich fühle mich nicht anhänging… ich habe alle Freiheiten, die ich mir denken kann.
    Sicher es würde noch mal so gut klappen, wenn ich gaaaanz reich wäre.. dann blieb sicher kein Wunsch mehr offen… oder doch?
    Ich überlege gerade, wenn ich reich wäre, hätte ich ein einsames Haus mit Tieren, hätte genug zu essen, hätte eine Auto, …Hmmm? stelle fest, das hab ich schon alles…also muß ich reich sein?
    Vielleicht ist der größte Reichtum, außer dem persönlichen Glück unf der Gesundheit, die innere Zufriedenheit?
    LG, Petra

    • der_emil sagt:

      Wenn ich reich wär … Viel würde sich nicht ändern. Vielleicht woanders wohnen mit einem echten Ofen und einem eigenen Brunnen, großer Garten zum Selbstversorgen …

      Aber ich fühle mich abhängiger im Moment als früher … Ist vielleicht doch wieder nur eine Frage des Blickwinkels? Danke für die Anregung.

  3. Emma sagt:

    Lieber Emil,

    mir ist dieses Buch vor über einem Jahr wieder in die Hände gefallen. Und musste bei vielen Texten der Strittmatter feststellen, das passt immer noch. Ich liebe dieses Buch, wobei es für mich noch ein ganz besondere Bedeutung in sich trägt.
    Liebe Grüße nach Halle

  4. Pantoufle sagt:

    Die Abhängigkeiten haben in den letzten 35 Jahren, die ich als (halbwegs) Erwachsener verlebt habe, kontinuierlich und bis ins Unerträgliche zugenommen. Im Namen von Sicherheit, Staatsfürsorge und Aufsicht werden Tag für Tag mehr „Nischen“ beseitigt, in denen man abseits des bürgerlichen Lebens überleben kann. Entweder, man passt sich der vom Kapitalismus verordneten Linie an oder man geht unter. Die „Freiheit“, jedes Produkt kaufen zu können, löste eine wirkliche Freiheit, andere Lebensideen zu realisieren, ab.
    Nachdem sich der Westen gegenüber dem Osten totgesiegt hat, fehlt jede gesellschaftliche Alternative – Ideen wie die des Sozialismus oder des Anarchismus sind gesellschaftlich wie politisch diskriminiert und sind entgültig abgelöst von der allein seligmachenden Idee des unendlichen Konsums.
    Der Begriff „Freiheit“ wird in Zukunft von der Marketingabteilung des Kreditkartenkonzerns Visa formuliert – wer blöd ist oder nicht von einem Elektrogerätehandel.
    Der Anspruche von „Freiheit und Unabhängigkeit“ wird zum Rückzug ins kleine, private Glück, eine Expansion nach innen. Die Möglichkeit der totalen Komunikation und des totalen Konsums führt scheinbar zu einer Beschränkung des Verstehens: Wenn die Schlagzeile mehr als 10 Worte umfasst, wird sie schon nicht mehr begriffen. Alles hat einfach, simpel und für den Dümmsten nachvollziehbar zu sein – eine Diktatur der Mittelmäßigkeit, der sich auch die Entwürfe anderer Lebensideen unterzuordenen haben.
    Was Freiheit zu sein hat, wird von der deutschen Bank und Daimler-Benz formuliert: Wie wir an ihr teilhaben können, ebenso. Was folgt, ist unter anderem Abhängigkeit des Geistes, der irgendwann tatsächlich glaubt, daß das wirklich „Freiheit“ ist. Es gleicht einem Rückfall in die Biedermeierzeit – sozialer Rückschritt mit Siebenmeilenstiefeln.

    • der_emil sagt:

      Unsere Visionen ähneln einander. Orwells 1984 wird weit übertroffen werden.

      Und die meisten lassen sich am Nasenring „Konsum“ sonstwohin zerren … Zwang steckt da nicht dahinter, aber künstlich erzeugte Abhängigkeiten, von denen sich der Bürger noch freimachen konnte, der heutige Kunde allerdings …

  5. Ilona Form sagt:

    Lieber Emil, ich finde, man ist immer von Irgendwas abhängig. Weiss nicht was bei Dir vor 28 Jahren war. Als Kind war ich von meinen Adoptiveltern abhängig, dann von meinen 1. Mann.
    Und dann kam der Punkt, da sagte ich NEIN mit mir nicht mehr. Von da am war ich mein eigener Mensch, eher von mir abhängig, als von anderen. Und ich werde mich NIE; NIE mehr in eine Abhängigkeit drängen lassen.
    In diesem Sinne mein guter Freund alles Liebe von Illo.******

    • der_emil sagt:

      Die Abhängigkeit von anderen Menschen hab ich je extra weggelassen. Aber wir haben uns von so vielen anderen Dingen abhängig machen lassen (zB immer und überall per Handy erreichbar sein wollen/müssen)

      • Ilona Form sagt:

        Lieber Emil, wir haben kein Handy;;;wollen wir nicht ,brauchen wir nicht, nehmen
        wir nicht…..Illo.*****

  6. Das sehe ich ein wenig anders! Welche Freiheiten wir uns nehmen können, hängt doch auch von uns selber ab. Lass das Handy zu Hause, wer sagt denn, dass man immer und überall erreichbar sein muss. Es gibt Abhängigkeiten, die kann ich nicht ändern: Um essen, trinken und wohnen zu können, muss ich eine vernünftig bezahlte Arbeit haben oder Hilfe in Anspruch nehmen. Hartz IV ist dabei die größte Verars…. die es gibt, das aber nur nebenbei. Also diese Abhängigkeit ist schwer zu ändern. Aber ich kann selbst entscheiden ob ich die Meinung der Blödzeitung übernehme, ob ich der Onanie 16:9 fröne, ob ich Geiz geil finde. Konsum ist erwünscht, klar, Brot und Spiele, hab ich mal drüber gepostet. Freunde findet man immer noch in der realen Welt, aber Freundschaften dort wollen gepflegt werden. das ist mit den virtuellen Freunden ganz anders. Ich habe heute meinen Rentenbescheid bekommen:Wenn ich am 1.10.2019 mein Rentenalter erreicht habe, bekomme ich etwas über 500,00€ Rente. Das ist so, weil ich dem Staat jede Menge Geld gespart habe, weil ich meine Kinder 15 Jahre zu Hause erzogen habe, sie in einen Miniclub gingen (selbst bezahlt), eine Privatschule besuchten (selbst bezahlt), gute Ausbildungen genossen und jetzt brave Steuerzahler sind. Ich beklage mich nicht darüber, denn es war meine Entscheidung! Aber ich weiß schon heute, wovon ich später abhängig sein werde. Das sind die nicht zu ändernden Abhängigkeiten. Aber ich hatte die Freiheit eigene Entscheidungen zu treffen: Meine Kinder hätten in die KiTa gedurft, aber nicht gemusst, ich hatte die Freiheit bei Wahlen meine Stimme abzugeben oder auch nicht, ich hätte, wäre ich gläubige Christin, die Kirche besuchen können oder auch nicht. Und daran hat sich nichts geändert. Nein, Emil, ich fühle mich in meinen Freiheiten nicht beschnitten. Das kommt wahrscheinlich noch – wenn ich dement bin und keine eigenständigen Entscheidungen mehr treffen kann. Aber auch das könnte ich im Vorfeld selbst bestimmen!

    • der_emil sagt:

      Hm. Natürlich habe ich Freiheiten. Hatte ich auch in der DDR.

      ABER: Die Abhängigkeiten sind mehr geworden, ist mein Eindruck. Ja, daran ist oft der technische Fortschritt“ (von was wurde fortgeschritten?) nicht unschuldig; und die Menschen in ihrem Fortschrittsglauben trampeln unreflektiert hinterher (viele jedenfalls).

      Danke für Deine Meinung!

  7. Interessanter Blog… ich fühle mich frei, weil ich glücklich bin .
    Früher in der DDR fühlte ich mich gut, aber niemals wirklich glücklich. Zuviele Dinge haben mich gestört um wirklich zufrieden zu sein. Heute habe ich zwar HartzIV und der Blick in die Zukunft sieht nicht rosig aus, aber ich bin glücklich und zufrieden.

    Ich trauere alten Zeiten nicht eine Sekunde nach, denn in der DDR hatten wir auch Sorgen, zwar andere als heute aber eben auch Sorgen. Ich versuche das Beste aus Allem zu machen, genau wie vor 20 Jahren… Abhängig bin ich garantiert von irgendwelchen Dingen , nur stört es mich nicht ^^ Das Leben ist schön und man sollte einfach leben ohne wenn und aber, denn wir haben nur das eine 🙂

    GLG TimeBandits

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