2025 – 030: Zwanzig

Jeden Tag diese immer gleiche Zahl, jeden Tag. Der Anfänger.

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Eine Seite in dieser Kladde hat genau 20 Zeilen. Jede Seite in jeder der Kladden. Seit vier Jahren. Und wohl auch noch für weitere etwa zehn Jahre: Im Schrank liegen noch über 30 Stück davon. Damals hatte ich mir bei der Geschäftsaufgabe dieses einen wundervollen Schreibwarenladens einen Karton davon gekauft, einen original­ver­packten Karton mit 50 Stück dieser herrlichen Notizbücher mit dem linierten, chamoisen Papier und dem       /   /    oben außen auf den Seiten. Spottbillig bekam ich, wo ich vorher zehn Euro für ein Exem­plar bezahlte: den ganzen Karton zu genau diesem Preis.

Ich schreibe jeden Tag eine dieser Seiten voll. Immer nur diese 20 Zeilen. Niemals auch nur ein Wort mehr. Jedenfalls nicht in diesem Notizbuch. Gestern lautete die letzte Zeile: „so daß es keine über­prüf­baren Hinweise auf nur irgend-”. Vorgestern stand da: „warme und weiche Haut, und wie sich ihre Brustwarzen”. Keine Lust mehr, jetzt noch weiter zurückzublättern. Aber genau so schreibe ich in diesen Kladden seit vier Jahren. Nur sehr, sehr selten schaffe ich es, eine komplette Geschichte in diesen zwanzig Zeilen unterzu­brin­gen. Und nur ein einziges Mal, an meinem Geburtstag voriges Jahr, waren noch sieben Zeilen nach einem Ende frei. Sieben Zeilen, die ich dann mit Geschwafel füllte.

Es gibt auf keiner dieser Seiten bisher eine Überschrift; das soll auch so bleiben. Ich möchte jeden Tag einer, nein, meinen Ideen einfach nur Raum geben, einen kleinen Raum. Und seit der ersten eigent­lich unvollen Seite stelle ich mir vor, was die so beschrie­benen Seiten mit Menschen machen könnte, die all das als gedruckte Bücher lesen könnten und würden. Ich kann mir auch vorstellen, mit welchem Beinamen die Kritik mich bedenken würde: Anfänger. Nicht weil ich wie einer schreibe (doch diese Mißdeu­tung wäre beabsichtigt), sondern weil darin eben nur Anfänge zu lesen wären, Anfänge und nichts als Anfänge.

Und seit heute frage ich mich, warum nicht auch diese Eine-Seite-Texte komplett sein können, abgeschlossene Werke sein können, einfach eine neue und mutige Textform? Nur erdreistete sich bisher niemand, die herzuzeigen, als Kunst zu begreifen. Zehn Jahre noch kann ich so weiterschreiben, kann ich an jedem Tag 20 Zeilen auf einer Seite in einem dieser Notizbücher füllen.

 

 

Heute weggegeben bzw. entsorgt:
Auf dem Weg zum Einkaufen brachte ich 13 Bücher und eine ungezählte Menge CDs in ein Öffentliches Bücherregal.

 

Mit einem Danke fürs Lesen schleiche ich mich davon.

Der Emil

 

P.S.: Am 30. Januar 2025 war ich zufrieden mit dem am Vormittag erwiesenen Hilfsdienst, mit dem Termin beim Hausarzt, mit den zwei gesehenen utopischen Filmen (Involution, Salyut-7).


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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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3 Antworten zu 2025 – 030: Zwanzig

  1. Verbalkanone sagt:

    Aber diese Kunstform gibt es doch bereits unter dem Namen Kurzprosa, lieber Emil. Ich schreibe auch gern solche kurzen Texte, die oft nur eine Szene darstellen. Ich finde, das ist ein ganz eigenes literarisches Genre.

    • Der Emil sagt:

      Kurzprosa schreib ich ja auch. ABER: Wenn jedes Stücklein einfach mitten im Satz aufhört … Wenn alles erkennbar unbeendete Anfänge sind … DAS ist ja nochmal einen Tacken spezieller.

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