300–2024: Vorfreuangst

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„Es ist ein sehr sonderlicher Zustand, der sich einstellt, wenn neben der freudvollen Erwartung eines Ereignisses gleichzeitig eine ununterdrück­bare Angst einzieht davor, daß selbiges nicht stattfinden wird; was der gnädige Herrgott zu unserem Segen allerdings verhindern möge.”

Ich lese die letzten Zeilen des Briefes mehrfach. Es ist die feine Handschrift der Stollerin, die mit vollem Namen Johanne Elfriede Maria zu Stoller hieß und von 1745 bis 1803 hier am Rande der Stadt lebte. Es gibt allerdings zu diesem datierten Brief nichts zu finden darüber, welches Ereignis sie meinte. Ja, insbesondere die freudvolle Erwartung läßt an eine Geburt in der Familie oder im Freundes­kreis denken. Aber es gibt keinen Beleg dafür, daß eine solche in dem zum Brief passenden Zeitraum stattgefunden hätte; auch eine Totgeburt wird nirgends erwähnt. Das ist sonderbar, denn die Stollerin führte ein sehr detailliertes Journal avec toutes les petites choses et les grands événements, ihr Tagebuch mit allen Kleinigkeiten und großen Ereignissen. In all diesen Notiz­büchern hat sie von ihrem sechzehnten Lebensjahr an, da sie mit dem Johann Richard Siegfried zu Stoller verehelicht wurde, bis nur sechs Tage vor ihrem Tod tagtäglich alle ihr wichtig erscheinenden Gescheh­nisse festgehalten. Aber sie erwähnt darin keine Geburt, keine Verlobung, keine Heirat, kein Stelldichein mit ihrem Liebhaber – nichts, das in vorhergehenden und nachfolgenden Briefen zu dem Satz passen könnte. Es ist also anzunehmen, daß das erwähnte Ereignis nicht eintraf. Und doch: In anderen solchen Fällen schrieb sie in späteren Briefen darüber. Sie unterrichtete ihre Freundin auch über geplatzte Tête à Tête und verlieh ihrem Kummer des­wegen deutlich Ausdruck. Diesmal nicht. Oder ist vielleicht einer ihrer Briefe oder nur dessen Abschrift verloren­gegangen?

Was ist geschehen, Stollerin? Oder ist etwas nicht geschehen? Was machte Dir diese Vorfreuangst? War das, was nicht geschah, so niederdrückend für Dich? So incommod, daß Du nichts darüber schreiben konntest? Oder hast Du nur das Abschreiben vergessen?

Obwohl: Auch ich schreibe gewisse Fehlschläge nirgends auf. Es muß niemand irgendwann lesen können, wie beschissen es mir manchmal wirklich geht.

 

 

Erinnerung des Tages:
Immer am vorletzten Sonntag im Oktober wurde im Heimatdorf Kirchweih gefeiert; als ich Kind war, trafen sich in der Wohnung der Großeltern dann etwas über 20 Verwandte, die alle Platz fanden.

 

Mit einem Danke fürs Lesen schleiche ich mich davon.

Der Emil

 

P.S.: Zufrieden war ich am 26. Oktober 2024 mit der Schreiberei am frühen Morgen, mit meinem veganen Gulasch (Rosenkohl), mit einem nach Umtausch funktionierenden technischen Gerät.

© 2024 – Der Emil. Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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