Gefühlsleben (Nº 097/2018)

Erleben, aushalten, zulassen – unbewertet am besten.

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Gestern habe ich es wieder erlebt. Es gibt Gefühle, die ich nicht haben möchte, die ich noch immer für schlechte, nicht gute, verbotene, unerwünschte, “nicht reale” Gefühle halte. Zum Beispiel diese Trauer, die da gestern war. Für mein Denken war die viel zu intensiv, eine Überreaktion. Oft denke ich das auch von Wut und Zorn … Und dann sitze ich nach so einem Gefühlsausbruch da und denke. Denke nach. Über den Anlaß, den Grund, die Auswirkungen. Ich versuche, mir meine Gefühle zu erklären. Oder sie um­zu­deuten, gar ungefühlt zu machen.

Wie irre, wie irrsinnig, wie unsinnig, wie aufwendig und nutzlos.

Nutzlos? Nun ja, nicht ganz. Denn im Ergebnis kam es eben zu keinem Ausbruch eines nicht akzeptierten Gefühls. Oder ich finde einen Schuldigen, der für meine negativen Gefühle verantwortlich war/ist. Wie gut, denn dann war es nicht meine Schuld; selbst die Folgen kann ich dann dem Anderen zuschreiben. Das ist doch etwas, das ich zu meiner erfolgreichen Psychohygiene (welch schauerliches Wort) zählen kann: Unschuld. Oder?

Eigentlich habe ich vor langer Zeit etwas gelernt, auch schon erfolgreich “damit gear­bei­tet”, es ohne nachzudenken angewendet: Kein Gefühl ist falsch. Das gilt auch für die schlechten, nicht guten, verbotenen, unerwünschten, “nicht realen” Gefühle. Dabei sind Angst, Wut, Freude, Trauer, Überraschung, Ekel die, die mit ganz typischen (und teilweise unwillkürlichen) Mimiken verbunden sind, die auch weltweit als genau zu diesen Gefühlen gehörende Gesichtsausdrücke erkannt werden. Was mich schon vor Jahren erstaunte: von den gerade genannten sechs Gefühlen sind vier (Angst, Wut, Trauer, Ekel) die, die ich intuitiv als “negative” Gefühle betrachte, immer und immer wieder, und doch weiß ich, daß zwei von den vier eben nicht negativ, sondern hilfreich und damit positiv sind (Angst, Wut), und bei der Trauer bin ich mir wirklich nicht sicher. Ist das mein vielleicht etwas versch(r)o­benes Bewertungssystem, oder ist mein Bewertungssystem da völlig verkorkst?

Trauer also. Was mich an ihr am meisten stört, weshalb ich sie – überwiegend – als ungutes Gefühl wahrnehme, sind zwei Eigenschaften:

  • Jede, besonders aber akute Trauer tut weh.
  • Akute Trauer läßt mich überwunden geglaubte Trauer aus der Vergangenheit immer wieder und wieder fühlen.

Jedesmal kommt dann auch der Schmerz vom Tod meines Sohnes wieder. Jedesmal kommt das Gefühl all der Verluste aus der Vergangeheit dazu, bei denen nicht unbedingt jemand starb, aber aus meinem Leben verschwand. Und dann ist da auch Angst vor zukünftigen Verlusten. Doch noch ein negativ bewertetes Gefühl, das aber über­le­bens­wichtig ist. Ich mag Angst nicht, weil sie zu oft bei nicht Lebenswichtigem übergroß wird: auf Brücken die Höhenangst zum Beispiel, übertriebene Angst vor gelb-dunkel gestreiften Insekten. Bewerte ich die Trauer wegen der in mir damit unmittelbar verbundenen Angst fälschlicherweise als negatives Gefühl?

Rational sollte möchte ich, kann ich aber nicht mit meinen Gefühlen umgehen. Kann wohl kein gesunder Mensch. Und vielleicht ist das Bestandteil meiner psychischen Ungesund­heit: der Wunsch, der Zwang nach rationalem Umgang mit Gefühlen, (noch oder wieder) die Unmöglichkeit des bewertungsfreien Aushaltens von Gefühl … Ich vermute, ich muß das mal wieder bewußt üben, dieses Fühlen, dieses Gefühle zulassen.

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke für’s Lesen.

Der Emil

P.S.: Positiv am 07.04.2018 waren Eintopf, viel Transkribiertes, und das Konzert am Abend wird bestimmt auch noch dazugehören, wenn ich es erlebt habe.
 
Die Tageskarte für morgen ist 0 – Der Narr.

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Über Der Emil

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0 Antworten zu Gefühlsleben (Nº 097/2018)

  1. Sofasophia sagt:

    Wie schon so oft ahne/kenne ich, was du fühlst, denkst und in Worte fasst.
    Besonders das Fazit berührt mich. Geht mir ähnlich.

  2. puzzleblume sagt:

    Wie wertvoll dieser Satz doch ist: Kein Gefühl ist falsch.
    Aber so viele Menschen müssen schon als sehr kleine Kinder lernen, dass einige ihrer Gefühle nicht willkommen sind, werden mit Ungeduld, Wut oder Nichtbeachtung für ihre Meldungen solcher Gefühle bestraft, und versuchen zu lernen, was nicht möglich ist, aber zu einer Wegweisung der unwillkommenen Gefühle führt – so stelle ich mir vor, beginnt der Fehler-Marathon.


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  3. Corinna sagt:

    Ich würde dich jetzt einfach nur mal drücken wollen…

  4. diefarbeev sagt:

    Einen Menschen zu verliere, das macht die Trauer so final und endlos zu allen anderen Gefühlen. Man kann sich mit ihr beschäftigen, mit ihr und an arbeiten, aber eben nur mit ihr, nicht mit dem Menschen. Trauer ist einfach nichts mehr, was offen in unserer Gesellschaft stattfindet oder sogar, wie vor einigen Generationen noch, ritualisiert und damit begreifbarer wird. Ich drück mit.


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