Was soll’s? (#319)

Neugierig bin ich nicht. Aber versucht.

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Hinter ihm schloß sich die Tür. Ich trank den letzten, fast kalten Schluck Kaffee aus der Tasse mit dem Goldrand. Dann saß ich einige Minuten nur da und starrte die Kladde an, die er auf dem Tisch liegengelassen hatte.

Genau das war es, was mich ratlos zurückließ. Nicht seine Weigerung, mir mehr zu sagen, überhaupt etwas zu sagen oder wenigstens anzudeuten, worüber er sprach. Diese liegengebliebene, kleine, abgegriffene, schwarze Kladde.

Wir kennen uns schon seit Jahren, waren uns hier in der Stadt, nein, in einem Vorort der Stadt in einer Kneipe über den Weg gelaufen. Irgendwann spielten wir zusammen Dart, irgendwann begannen wir mehr zu besprechen als nur das übliche Männergeprahle und die altbekannten Witze.

So wußte er schon lange von meinem Leben: vielleicht sogar mehr als mein Therapeut. Und ich wußte mehr von seinem als seine Frau. Nein, da waren keine Affären, keine Techtelmechtel, keine Nutten.

Aber da waren und da sind unsere Ängste und Zweifel. Daß wir unseren Frauen nicht genügen könnten, daß wir etwas versäumen, daß wir unsere Träume mehr als einmal verraten hatten und versuchten zu vergessen.

Er brachte mich erst dazu, ebensolche Kladden zu kaufen und hineinzuschreiben, was mich bewegte und bewegt. Und er hatte diese Büchlein nie irgendwo hingelegt und dann auch noch liegengelassen. Nein, immer schob er sie, sobald er zu lesen oder zu schreiben aufhörte, in die linke Innentasche seiner Weste oder Jacke, nie irgendwoandershin.

Und nun lag seine Kladde auf meinem Wohnzimmertisch. Noch nachdem er sichtlich aufgewühlt gegangen war.

Nachdenklich erhob ich mich, trat in Gedanken versunken auf den Balkon hinaus. Was hat ihn so beschäftigt, daß seine Reflexe – gut, “nur” antrainierte Reflexe, aber immerhin! – so versagten? Und während ich mir eine Zigarette drehte und sie hastig rauchte, sprudelten aus meiner Phantasie die wundersamsten Geschichten.

Ich sollte es finden und lesen, damit ich wußte, was ihn bedrückt? Ich sollte es finden und lesen – als Test, wie vertrauenswürdig ich bin; denn das Gelesene beschäftigte mich so sehr, daß ich mich irgendwann verraten hätte? Die Angelegenheit, über die er nicht sprach, überlagerte alles: er befand sich sozusagen in einem Schockzustand?

Ich ging wieder hinein, setzte mich auf mein Sofa und starrte die Kladde lange an. Was sollte ich jetzt damit anfangen, wie sollte ich damit umgehen. Anrufen konnte ich ihn nicht – er weigerte sich, ein Mobiltelefon zu besitzen und zu benutzen – und der Festnetzanschluß wurde ihm schon vor fast einem Jahr wegen Zahlungsrückständen gekündigt, kurz nachdem ihn seine Frau verlassen hatte.

Dann hatte ich mich entschieden: Ich nahm die Kladde und setzte mich mit ihr an meinen Schreibtisch.

 

Der Verfasser des Blogs schleicht davon und dankt für’s Lesen.

P.S.: Positiv am 13. November 2012 waren die Aufzeichnung der “Oster”-Sendung und die Klärung zweier technischer Probleme.

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319 / 366 – One post a day 2012 (WP-count: 505 words)

Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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0 Antworten zu Was soll’s? (#319)

  1. minibares sagt:

    Puuuh, solch eine Entscheidung muss echt reifen, bis sie umgesetzt werden kann.
    Da muss ja Ungeheuerliches geschehen sein…. bin auf die Fortsetzung gespannt.

  2. Sofasophia sagt:

    oooohweh, to read or not to read?

    (toller text und genialer cliffhanger …)

  3. Frau Blau sagt:

    kann mich Sosos Klammer nur anschließen

    und mens wäre gewesen mich anzuziehen und ihm hinterher zu gehen 😉

  4. wildgans sagt:

    Offen herum liegende Tagebücher wollen gelesen werden….
    Gruß von Sonja

  5. gejuta sagt:

    Lieber Emil,

    geht die Geschichte weiter? Sie ist so berührend …

    Liebe Grüße Gerd

  6. Gabi sagt:

    Ich würde es mir wünschen, dass die Geschichte weiter geht.

    LG Gabi

  7. Pingback: Nichts finden (#327) | Gedacht | Geschrieben | Erlebt | Gesehen

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