Die Handschrift leicht nach links geneigt und sehr rund.
Etwas Besonderes hatte er schon mitgebracht, mein alter Freund. Er weiß ja, daß ich Zettel sammle, Einkaufszettel und andere, die so auf den Wegen herumliegen, die ich gehe. Als er bei einem Tee anfing, von seinem Ausflug nach Karlovy Vary zu erzählen, von dem, den er vor acht Wochen ungefähr mit der Eisenbahn gemacht hatte, holte er dann bald einen Zettel aus der Hosentasche. Ihm gegenüber saß – von Johangeorgenstadt bis Nejdek – ein Mädchen, zumindest aber eine sehr junge Frau, und las in einem Buch. Der Zug fuhr schon wieder los vom Bahnhof Nejdek, da sah er das Buch noch auf dem Sitz gegenüber liegen – sie hatte es beim Aussteigen liegengelassen, vergessen. Er warf nahm es und warf einen Blick hinein, die kyrillischen Buchstaben konnte er allerdings nicht lesen. Doch diesen Zettel da … Er reichte ihn mir.
Einmal alle Konventionen mißachten, vergessen, ignorieren, drauf pfeifen. Und all das ausleben, das ich mir in meinen geheimen Träumen erlaube: Geld ausgeben und verschenken, Leute anquatschen; Menschen fragen, ob ich sie splitternackt zeichnen oder wenigsten einmal so sehen darf; Wände beschreiben und alle Arten von Scheiben; in einer Kirche anzügliche Lieder singen und dazu nackend tanzen. Alle Scham ablegen, ich sein, ganz pur und unverstellt …
Das Buch ließ er beim Aussteigen in Karlsbad auch im Zug liegen, den Zettel mußte er mitnehmen. Ob sie ihn geschrieben hatte, die Leserin? Er meinte noch, daß er keinen Mann kenne, der nach links geneigt schriebe. Also bis auf mich. Aber ich sei ja Linkshänder und das zählte also nicht. So brabbelte er, während ich die Worte schnell abschrieb. Denn schenken wollte er mir diesen Zettel keinesfalls, nur zeigen. Naja, knauserig war er schon immer …
Erinnerung des Tages:
Eines der ersten Bilder, die mir per MMS geschickt wurden (ich glaube, das dritte), war eines von jenen, die niemand anderes hätte jemals sehen dürfen.
Mit einem Danke fürs Lesen schleiche ich mich davon.
P.S.: Am 28. Oktober 2025 war ich zufrieden mit gebügelter und verräumter Wäsche, mit Linseneintopf, mit einem heute kopmlett gelesenen Buch (Armin Müller: Meine verschiedenen Leben).
© 2025 – Der Emil. Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
(Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).


Off topic > Fundzettel:
Kennst du die da? (Das ist ein Kunstfreund von J. aus Mainz.) > http://www.brand-stiftung.net/brandstifter/asphaltbibliotheque/
Da hätte der alte Freund vielleicht Freude?
Natürlich kenne ich die Asphaltbibliothek.
Und auch das Zettelwerk …