Ein besonderes Notizbuch für sowas habe ich noch nicht angelegt.
Sie weiß nicht mehr, seit wann sie diese Art von Sätzen in dieses eine Notizbuch einträgt. Es muß Jahre hersein, daß sie damit anfing: Die Schrift auf den ersten Seiten ist nicht die, die sie heute hat. Vielleicht die Hälfte aller Seiten ist beschrieben, vielleicht etwas mehr als die Hälfte. Doch scheint noch unendlich viel Platz darin zu sein, den Tante Erdmute nach und nach mit ihrer Schönschrift füllen wird.
Heute ist er in der Stadt unterwegs und erledigt die notwendigen Einkäufe. Sie möchte nicht, daß er all das lesen kann, was sie zum Teil auch über ihn schon niederschrieb. Und sie möchte auch nicht, daß überhaupt seine Neugier geweckt würde, wenn er nur von diesem Notizbuch wüßte. Ein wenig muß sie sich also beeilen, jedenfalls darf sie nicht zuviel Zeit vergeuden.
»Zeitreiseproblem: Wenn Zeitreisen möglich wären, wie würde es sich wirklich mit der in anderen Zeiten verlebten Zeitspanne verhalten? Ist die in meiner Ursprungszeit einfach so nie abgelaufen? Wenn sie da aber nicht existiert, müßte dann nicht auch jede Erinnerung an die Anderzeit verschwunden sein?«
Tante Erdmute zieht mit dem Lineal einen geraden Strich unter ihren Sätzen von links nach rechts über die Seite. Wie immer, wenn sie hier etwas Neues hinzufügt. Ach ja, wenn Zeitreisen möglich wären, so wüßte sie ein paar lohnenswerte Ziele, an denen sie ihre Neugier befriedigen wollen würde. Und schreibt dann weiter:
»Wenn einmal mehr jemand sagt, daß ich doch nun wirklich nicht gemeint, nicht mitgemeint bin, ich mich aber dennoch betroffen fühle … Wer irrt sich: Mein Gegenüber oder ich?«
Strich.
»Wieso nur stelle ich mir immer wieder Fragen, auf die ich mir selbst keine Antwort geben kann? Eine von ihnen, nein, sogar mehrere von ihnen müßte ich ihm stellen, er könnte sie mir beantworten. Doch noch bin ich nicht bereit, mich so weit vor ihm bloßzustellen.«
Wieder ein Strich. Und dann ist es genug für diesen Tag, beschließt sie. Die Zettel, auf denen sie all das vorher festgehalten hatte, verbrennt sie nachher gleich noch draußen im Garten. Vorher aber schiebt sie das Notizbuch wieder hinter die lange Reihe an Karl-May-Bänden im Bücherregal. Für solche Art seichter Literatur hat er sich noch nie interessiert. Auch diesmal, glaubt Tante Erdmute, wird er nichts von ihren Geheimnissen entdecken können.
Erinnerung des Tages:
Vor vielen Jahren wollte jemand von mir ein Lied über Bananensaft haben; ich schrieb zwei Strophen (und den Refrain) auf die Melodie von Auld Lang Syne.
Mit einem Danke fürs Lesen schleiche ich mich davon.
P.S.: Am 13. Oktober 2025 war ich zufrieden mit dem herbstbunt leuchtenden Laub an den Bäumen, einem ungeplanten Gespräch mit einer völlig fremden Frau vorm Laden, mit weiteren bearbeiteten Zetteln.
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(Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).

