309–2024: Privates(tes)

Was mich grad heftig beschäftigt: Ein möglicher Tod.

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Wer länger und vielleicht regelmäßig hier liest, weiß, daß mein Vater dement ist und seit Jahren in einer Pflegeeinrichtung lebt. Natürlich wissen alle in der Familie: Sein Zustand konnte nicht und wird auch nie mehr besser werden. Ich habe gelesen über diese Krankheit, habe Wissen erworben, habe mit Menschen gesprochen, die Erfah­rung mit Demenzkranken machten und machen. Aber all das konnte mich auf meine Erfahrung, mein Erleben dessen nicht vorbereiten.

Ein schlechtes Gewissen habe ich, meinem Vater gegenüber, dem Rest der Familie gegenüber. Weil ich im letzten halben oder überhaupt im Jahr 2024 viel zu selten bei ihm war. An vielen Wochenenden war ich mit einem Verein unterwegs. Ich hatte auch drei Mal Termine Freitag und Montag. Dann war wieder jemand im Elternhaus mit Corona infiziert – und ich, der ich bisher davon verschont blieb, hatte Angst vor einer Ansteckung und blieb deshalb fern. Alles richtig und wichtig, denke ich bei mir, und dennoch: Das schlechte Gewissen ist vorhanden, wider besseren Wissens vorhanden.

Mit meinem Vater ging es übers Jahr auf und ab, mehr ab als auf. Im Sommer war er für knapp drei Wochen verstummt, bewegte sich kaum noch. Manche schoben das darauf, daß er nur mit der Hitze nicht zurechtkam. Es wurde dann ja auch wieder besser, und wenn ich hinkam, erkannte er mich und begrüße mich mit meinem Namen. Aber die Sprache war nicht mehr ganz so klar, die Geschichten wurden verworrener. Nach und nach verschwanden Wortteile. Seit drei Wochen steht er, der immer auf den Gängen und im Garten unterwegs war und auch oft Dinge demon­tierte, nicht mehr freiwillig auf. Er scheint jetzt auch zu vergessen, wie man einen Apfel ißt. (Das weiß ich nur von den Berichten der Menschen, die ihn besuchten.)

Ich habe das ungute Gefühl, daß er den Jahreswechsel, vielleicht auch schon das Weihnachtsfest nicht mehr erleben wird. Dann fehlt ein Mensch, den ich mein ganzes Leben lang kannte (und von dem ich mich auch einmal fast zehn Jahre abgewendet hatte). Unvorstellbar, dieses Fehlen. Als mein Sohn vor etwa 30 Jahren starb, entstand in mir eine große Lücke. Wenn er, mein Vater, nicht mehr lebt, wird da eine weitere Lücke gerissen. Eine andere, denn von der weiß ja jeder Mensch, daß sie irgendwann entstehen wird, weil auch Eltern nicht ewig leben. Doch jetzt, da dieser Abschied wahrscheinlicher wird, so verdammt nahe zu sein scheint, jetzt macht mir das auch Angst. Vor allem, weil ich nicht weiß, was mein Vater von seinem Leben in den letzten Jahren noch mitbekommen hat. Was er jetzt empfindet, ob er um seine Situation wußte und weiß oder nicht. Ob das überhaupt irgendwann einmal irgendjemand wissen kann, was in einem dementen Menschen vorgeht, was „übriggeblieben” ist von der Person, der Persönlichkeit …

Und ja, diese Situation ist es, die mich auch über die Endlichkeit meines Lebens nach­denken läßt. Hab ich noch 20 Jahre oder mehr zu leben, vielleicht sogar gut zu leben?

 

Erinnerung des Tages:
Heute erinnerte ich mich an Vieles, bei dem mein Vater eine große Rolle spielte. Ich werde davon bestimmt noch Einiges (mehr) aufschreiben und dann vielleicht irgendwann herzeigen.

 

Mit einem Danke fürs Lesen schleiche ich mich davon.

Der Emil

 

P.S.: Zufrieden war ich am 4. November 2024 mit der zur Nacht-Wachzeit sprudelnden Kreativität, mit meiner Ehrlichkeit mir selbst gegenüber, mit sehr schönen Erinnerungen.
 
Ich weiß noch nicht, ob ich Kommentare zu diesem Text freischalten werde …

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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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5 Antworten zu 309–2024: Privates(tes)

  1. @deremil Das Thema beschäftigt mich auch, aus ähnlichen Gründen. Nur nicht ganz so präsent wie bei dir.

    Wünsche dir Kraft für alles, was da kommen mag.

  2. @deremil Für mich steht der 26. Todestag meines Vaters bevor, schon verblasst, aber dennoch präsent. Kraft und Stärke für dich.

  3. Gerda sagt:

    Ich habe meinen Vater überhaupt nur bei meiner Geburt und dann wieder mit 6 Monaten „erlebt“, als er Fronturlaub hatte. An meinem ersten Weihnachten lebte er nicht mehr. Ich bin jetzt 82 und mein Vater spielt in meinem Leben immer noch eine bedeutsame Rolle, womöglich bedeutsamer, als hätte ich ihn erlebt.

  4. Wolfgang sagt:

    Meine Mutter starb schon 2013 in Folge ihrer Demenz. Mein Vater hatte sie bis zum Schluss selbst gepflegt. Die letzten Jahre sprach sie kein Wort mehr, was sehr schwer war. Die letzten Wochen habe ich dann mit meinem Vater an ihrem Bett verbracht. Obwohl sie komplett „weggetreten “ war, konnte man immer noch spüren, das tief in ihr immer noch die gleiche Mutter wohnte wie wir sie kannten. Ich hatte damals gerade angefangen Klarinette zu lernen. Ich spielte ihr dann, ohne das wirklich vorher gekonnt zu haben, die Hits aus ihrer Jugend, also so Sachen wie Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand, Eine Reise ins Glück etc., alles ohne Noten. Da bekam sie eine Träne ins Auge. Woher ich damals die Kraft und das Können nahm, weiß ich nicht. Das Ende begann dann so ähnlich wie du es jetzt bei deinem Vater beschreibst. Irgendwann kommt dann die Frage künstliche Ernährung oder nicht. Wir hatten uns dagegen entschieden. Wenn das Ende schon lange in Sicht war, kann es auch eine Erlösung sein, wenn es kommt. Aber zuerst ist man ob der schieren Unendlichkeit der Situation überfordert. Du musst kein schlechtes Gewissen haben, wenn dein Vater schon lange dement ist und du ihn nicht so oft besucht hattest, dann hat er das sicher nicht wahrgenommen. Jedenfalls war ich für jeden Moment dankbar, den ich zum Schluss mit meiner Mutter verbringen konnte. Wenn du bereits deinen Sohn verloren hast, kann es sicher nicht mehr schlimmer kommen. Der Vater, den du von früher kanntest ist ja jetzt schon nicht mehr da.

  5. Sofasophia sagt:

    Ach du, wie verständlich diese Gedanken sind.
    Ich fühle mit.

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