302–2024: Gereimtes

Es ist allerdings nicht aus meiner Feder.

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Gestern noch hätte ich dieses Gedicht nicht ertragen. Heute finde ich, das der Poet den Alltag von vielen Menschen gut, nein, sehr gut eingefangen hat. Ich kann, was er schrieb, mit einer gewissen Distanz lesen – und ich nicke beim Lesen häufig sehr heftig zustimmend.

 

 
Apropos, Einsamkeit!
Erich Kästner (∗ 1899 – † 1974)
 

Man kann mitunter scheußlich einsam sein!
Da hilft es nichts, den Kragen hochzuschlagen
und vor Geschäften zu sich selbst zu sagen:
Der Hut da drin ist hübsch, nur etwas klein …

Da hilft es nichts, in ein Café zu gehn
und aufzupassen, wie die andren lachen.
Da hilft es nichts, ihr Lachen nachzumachen.
Es hilft auch nicht, gleich wieder aufzustehn.

Da schaut man seinen eignen Schatten an.
Der springt und eilt, um sich nicht zu verspäten,
und Leute kommen, die ihn kühl zertreten.
Da hilft es nichts, wenn man nicht weinen kann.

Da hilft es nichts, mit sich nach Haus zu fliehn
und, falls man Brom zu Haus hat, Brom zu nehmen.
Da nützt es nichts, sich vor sich selbst zu schämen
und die Gardinen hastig vorzuziehn.

Da spürt man, wie es wäre: Klein zu sein.
So klein, wie nagelneue Kinder sind!
Dann schließt man beide Augen und wird blind.
Und liegt allein …

Erich Kästner: Die Zeit fährt Auto. Lyrische Bilanz. S.108
Reclams Universal-Bibliothek Band 433
3. Auflage 1974, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig
Lizenz-Nr. 363. 340/45/74 · Best.-Nr. 660 365 9

 

 

Ja, wer sich akut einsam fühlt, versucht dieses Ins-Café-Gehen zwei, vielleicht drei Mal. Danach – wenn es nicht zu einer überwältigenden Begegnung kommt – möchte man sich diese Enttäuschung sparen. Und ich mußte (allerdings schon vor Jahren) etwas im Netz herumsuchen, um den vierten Vers zu verstehen: Brom war lange Zeit ein Narkose-, Beruhigungs- und Schlafmittel, wird heute wegen seiner Giftigkeit aber wirklich nicht mehr eingesetzt. Beim Lesen von Kästners Gedicht frage ich mich jedes Mal: Nahm der Einsame das Brom zur Beruhigung, zum Einschlafen oder um sich zu vergiften? Na, wahrscheinlich hing das auch vom Grad der Einsamkeit und vom dadurch erzeugten Leidensdruck ab …

Heute, heute sind meiner Meinung nach viel mehr Menschen einsam als früher. Die Familien sind weggezogen, die Alten in Senoirenresidenzen unter sich. Die Anzahl alleinlebender Menschen, die sich das Führen einer Beziehung nicht mehr zutrauen oder (vermeintlich) keinen (idealen – aber das ist doch sowieso illusorisch) Partner finden, hat sich – so glaube ich – seit 40 Jahren massiv erhöht.

Tja. Einsamkeit. Ein aus dem Alltag nicht mehr zu verdrängendes, nicht mehr abzu­schaf­fendes Phänomen, das sogar Menschen in Beziehungen betreffen kann. (Nein, ich bin nicht [mehr] einsam, nur fühle ich mich manchmal sehr allein.) Ob sich das je wieder ändern kann, für alle Menschen ändern kann, die nicht einsam sein oder bleiben wollen?

 

Erinnerung des Tages:
Als ich zu DDR-Zeiten in einem Industriebetrieb jemanden mit Kochgeschirr und darin mit­ge­brachtem Essen sah, war ich sehr irritiert. Denn das Angebot in der Kantine war billig und durchaus genießbar – und zwar in allen drei Schichten an allen sieben Wochentagen.

 

Mit einem Danke fürs Lesen schleiche ich mich davon.

Der Emil

 

P.S.: Zufrieden war ich am 28. Oktober 2024 mit der Reaktion auf das jemandem mitgegebenen Mittagessen, mit leckerem Kuchen, mit einem sehr entspannenden kurzen Mittagsschlaf.

© 2024 – Der Emil. Eigener Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
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Über Der Emil

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3 Antworten zu 302–2024: Gereimtes

  1. Wolfgang sagt:

    Erich Kästner war ein guter Beobachter und dadurch auch ein guter Lyriker.

  2. Sofasophia sagt:

    Ob heute tatsächlich mehr Menschen (prozentual) einsam sind als früher? Das glaube ich eigentlich nicht. Ich glaube eher, dass das Bewusstsein für Einsamkeit gewachsen ist. Vielleicht wird die Einsamkeit mehr thematisiert und als Problem wahrgenommen. Aber was weißt denn ich?

    Ich lese übrigens gerade einen Roman, der in Griechenland spielt. Die Menschen darin sind sehr nah beieinander, so als Großfamilie, und kaum jemand ist je allein. Ob man sich da weniger einsam fühlt, ist die Frage. Mir wird beim Lesen Angst und Bange, ob so viel Nähe. Wie sich das wohl für einen reizsensiblen Menschen anfühlen muss, nie allein zu sein? Ja, auch das kann (bei mir) Einsamkeit auslösen, wie es ja auch Kästner andeutet.

    Ich persönlich fliehe, wenn ich mich einsam fühle, nicht in die Gesellschaft anderer Menschen, sondern in den Wald, in die Natur.

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