021–2024: Wiederfinden

Gedanken über die Vaterfigur, über den Vater.

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In der Anderwelt
 

Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelan­gen kann, muß ich hinüber zu ihm. Dort drüben, innerhalb der Grenzen seiner geistigen Verfassung, jenseits unserer auf Sach­lich­keit ausgelegten Gesellschaft, ist er noch immer ein beacht­licher Mensch, wenn auch nach allgemeinen Maßstäben nicht immer ganz vernünftig, so doch irgendwie brillant.

Eine Katze streift durch den Garten. Der Vater sagt: »Früher hatte ich auch Katzen, nicht gerade für mich allein, aber als Teil­haber.« Und einmal, als ich ihn frage, wie es ihm gehe, antwor­tete er: »Es geschehen keine Wunder, aber Zeichen.« Und dann ansatzlos Sätze, so unwahrscheinlich und schwebend, wie sie manchmal in Träumen kommen: »Das Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter.«

Arno Geiger. Zitiert aus dem Adventskalender „Der 27. Andere Advent
2021/2022” zum 28.12.2021 (Hrsg. Andere Zeiten e. V., Hamburg).
Die Textstelle ist in Geigers Buch „Der alte König in seinem Exil”
(2011, Hanser Verlag München) zu finden.

 

 

Mein Vater ist seit fast vier Jahren in seiner Anderwelt verschwunden, in der Demenz. Manchmal, wenn ich ihn besuche, erkennt er mich noch, ja, sogar meistens. Aber es fällt ihm schwerer noch als vor zwei, drei Jahren, sich zu äußern. Immer öfter sucht er nach Worten, findet sie nicht, beginnt dann einen ganz anderen Satz oder verstummt für Minuten. Ich weiß nicht, ob er sich seiner Unfähigkeit bewußt ist, denn es geschah auch schon, daß er in solchen Momenten zu weinen begann.

Wenn ich mit ihm allein bin und meine Mutter nicht ständig dazwischen­quas­selt und ihn zu korrigieren versucht, dann finden wir Themen, über die wir noch sprechen können: Sein Beruf, der Schrebergarten, der Bauernhof seiner Eltern, die Zusammenarbeit mit seinem Schwiegervater und Schwager. Dann schafft er auch mal drei oder vier zusammenhängende Sätze über eine längst vergan­gene Begebenheit, und er bleibt in diesen Sätzen konsistent, immer bei einer Version des Erlebten.

Mein Vater wird in wenigen Tagen 84 Jahre alt, älter als Geigers Vater war, als das Buch geschrieben wurde. Ich bin … Ich hatte fast zehn Jahre lang jeglichen Kontakt zu meiner Herkunftsfamilie abgebrochen – heute bedaure ich das. Und ich glaube, ich habe da viel Zeit vergeudet, in der ich hätte mit meinem Vater (und natürlich auch mit meinen Söhnen) sprechen können, Fragen stellen und Fragen beantworten können.

Mein Vater, der immer jemand war, zu dem ich trotz aller Konflikte und trotz allen Trotzes aufschaute, dessen Rat mir lange Zeit im Leben wichtig war. Mein Vater, der noch mein Vater ist, aber zu meinem Bedauern (nein, Bedauern ist hier nicht das ganz richtige Wort, aber ein anderes finde ich gerade nicht) nur noch ein schwacher, ein sehr schwacher Widerhall seiner selbst … Ich wüsche mir, daß ich ihn noch oft besuchen und vielleicht einmal, wenn auch nur für einen kurzen Moment, wiederfinden kann.

Jetzt bin ich auf der Suche nach eben jenem Buch von Arno Geiger: „Der alte König in seinem Exil”.

 

Erinnerung des Tages:
Mein Vater baute uns Kindern in den 1970ern eine TT-Eisenbahn. Ob die Platte mit den Gebäuden und all dem anderen und das Rollmaterial wohl noch existieren?

 

Mit einem Danke fürs Lesen schleiche ich mich davon.

Der Emil

 

P.S.: Zufrieden war ich am 21. Januar 2024 mit der zugelassenen Traurigkeit, mit der entspannenden Zeit in der Badewanne, mit Tomaten und Mozarella und Aceto Balsamico.

© 2024 – Der Emil. Eigener Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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12 Antworten zu 021–2024: Wiederfinden

  1. Thomas sagt:

    @deremil ja, das ist nicht leicht. Man muss doch Brücken bauen, so lange es eben geht.

  2. Verbalkanone sagt:

    Dein obiger Blogeintrag hat mich sehr berührt. Mein Vater ist bereits seit fünfeinhalb Jahren verstorben, meine Mutter ist schon vor mehr als zwanzig Jahren nicht mehr in dieser Welt. Ich hatte immer ein schwieriges Verhältnis zu meinem Vater, wohl vor allem deswegen, weil wir uns in einigen Charakterzügen sehr ähnlich waren. Auch ich hatte zeitweise den Kontakt zu meinem Vater abgebrochen, ich kann demzufolge vielleicht nachvollziehen, dass du denkst, du hättest Zeit verloren, die du mit ihm hättest verbringen können. Es ist müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Es ist so, wie es ist, und du kannst es nicht mehr ändern. Wichtig sind die schönen und innigen Momente, die ihr JETZT noch zusammen habt. So, und nun brauche ich ein Taschentuch …

  3. Gudrun sagt:

    Er wird immer dein Vater bleiben, egal was noch passiert. Ich finde es gut, dass du ihn und deine Mutter besuchst. Ja, du hattest alle Kontakte abgebrochen, aber jetzt bist du da. Ich wünsche dir von Herzen, dass du irgendwann auch die Fragen deiner Söhne beantworten kannst.

  4. Kai sagt:

    Ich kann es dir schicken, wenn du magst.

  5. Roswitha sagt:

    ein wunderbares buch, zweimal erlebte ich in unserem haushalt demenz, viel erinnerung kam beim lesen. unsere tante wollte einmal“ wolken käuflich erwerben“, ich hatte gesagt, schau mal, wie toll die wolken heute sind. unsere familie hat sehr viel gelernt im zusammensein mit dieser dementen tante. auch die enkelkinder konnten erfahrungen machen und mit ihr spielen oder singen. es klappte aber nur so gut, weil wir mit mehreren menschen gemeinsam ihren alltag gestalteten. niemand kann dies alleine, ohne über seine grenze zu gehen, denke ich. lieber emil, ich wünsche dir ruhige zeit mit deinem vater, aber auch gesprächszeit mit den söhnen. herzlich, roswitha

  6. Wolfgang sagt:

    Lieber Emil,
    meine Mutter ist 2017 an Alzheimer Demenz gestorben. Sie litt über zehn Jahre daran und hat die letzten beiden Jahre kein Wort mehr gesprochen. Als es dann zu Ende ging, hatte Donna die Größe mir den Rücken freizuhalten und ich war die letzten vier Wochen bei meinem Vater und saß an ihrem Bett. Obwohl sie nichts gesagt hat, habe ich gespürt, dass sie bei uns war. Ich hatte ihr auf der Klarinette Lieder ihrer Jugend vorgespielt und sie bekam tränen in die Augen. Du kannst dir nicht vorstellen wieviel mir das bedeutet hat und auch dass ich bis zur letzten Sekunde bei ihr sein konnte. Sie war trotz allem noch genauso meine Mutter, wie die ganzen Jahre zuvor.

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