2023/122 – Sterben


Karl Ove Knausgård. Ein Zitat.

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Wenn der Überblick über die Welt größer wird, schwindet nicht nur der Schmerz, den sie verursacht, sondern auch der Sinn. Die Welt zu verstehen heißt, einen bestimmten Abstand zu ihr einzunehmen. Was zu klein ist, um mit dem bloßen Auge wahr­ge­nommen zu werden, wie Moleküle und Atome, vergrößern wir, und was zu groß ist, wie Wolkengebilde, Flussdeltas, Stern­bil­der, verkleinern wir. Wenn wir den Gegenstand so in die Reich­weite unserer Sinne gebracht haben, fixieren wir ihn. Das Fixieren nennen wir Wissen. In unserer gesamten Kindheit und Jugend streben wir danach, den korrekten Abstand zu Dingen und Phänomenen einzunehmen. Wir lesen, wir lernen, wir er­fah­ren, wir korrigieren. Dann gelangen wir eines Tages an den Punkt, an dem alle notwendigen Abstände bestimmt, alle not­wen­digen Systeme etabliert sind. Es ist der Punkt, ab dem die Zeit schneller zu vergehen beginnt. Sie stößt auf keine Hinder­nisse mehr, alles ist festgelegt, die Zeit durchströmt unser aller Leben, die Tage verschwinden in einem rasenden Tempo, und ehe wir uns versehen, sind wir vierzig, fünfzig, sechzig … Sinn erfordert Fülle, Fülle erfordert Zeit, Zeit erfordert Wider­stand. Wissen ist Abstand, Wissen ist Stillstand und der Feind des Sinns.

Karl Ove Knausgård: Sterben. S. 17 (Genehmigte Taschenbuchausgabe btb 2013)
© 2011 Luchterhand Literaturverlag München, ISBN 978-3-442-74519-7

 

 

Nachdenklich. Inspiriert. Begeistert. So läßt mich dieses Buch zurück. (Ich bin mir sehr sicher, daß die Arbeit des Übersetzers Paul Berf nicht unerheblich zu meiner Begeisterung beitrug.) An den Seitenrändern ragen viele von diesen Klebezettelchen aus dem Buch heraus. Ich verstehe jetzt, warum ich so viele begeisterte Meinungen über die Werke von Karl Ove Knausgård las.

Ich habe ziemlich lange gebraucht, um die etwa 570 Seiten zu lesen. Und immer wieder hielt ich inne und las Stellen nochmal, und nochmal. Die da oben ist eine davon. Nachdenkfutter. In meiner Kladde stehen mehrere Gedanken dazu, noch unreine Gedanken, die ich weiterhin wälzen muß und entwirren, um zu erkennen, was sich in ihnen verbirgt. Da ist der Impuls: „Und was ist mit den Sachen, die nichtstofflich sind, mit den Gefühlen für mich selbst und andere Menschen; wie ist es gar mit der Liebe?” Auch mit solchen Dingen beschäftigen sich Menschen durch Kindheit und Jugend, zumeist soger sehr intensiv (wenn sie nicht daran gehindert werden). Und dann, dann entwickelte ich mich ja weiter und die Abstände veränderten sich und die etablierten Systeme erfuh­ren einen Bedeutungswandel oder verschwanden ganz. Das ganz normale Leben also, das ganz normale Leben.

Und die Zeit?

Die Wahrnehmung, daß die Zeit mit zunehmendem Alter – oder eben ab einem be­stimmten Punkt – schneller vergeht, rührt vielleich auch von der Erkenntnis her, daß die noch verbleibende Zeit viel kürzer ist als die bereits gelebte. Aber das ist für mich nicht der Punkt der zitierten Sätze. Nach dem suche ich noch, auch in den von mir dazu ins Unreine geschriebenen Notizen. Da nagt etwas ganz vorsichtig, beinahe zärtlich in mir …

 

Jetzt halte ich Ausschau nach „Spielen”, „Lieben” und „Alles hat seine Zeit” Und erst dann, wenn ich die auch gelesen habe, wird „Sterben”, das ich mit Sicher­heit mindestens noch einmal lesen werde, zusammen mit ihnen wieder in ein Öffentliches Bücherregal gestellt werden.

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

 

P.S.: Am 2. Mai 2023 war ich zufrieden mit dem Ausschlafen, mit den erle­dig­ten Nacharbeiten (Abwasch, Wäsche, Kram sortieren), mit den Mettbrötchen unterwegs.

© 2023 – Der Emil. Eigener Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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5 Antworten zu 2023/122 – Sterben

  1. Nati sagt:

    Dieses Buch würde ich auch gerne lesen wollen.
    Manche Bücher sind es mehr als Wert einzeln, genüßlich, nachdenklich, Stück für Stück zu lesen und gedanklich zu verdauen.

    • Der Emil sagt:

      Es gab eine Zeit (vor drei oder mehr Jahren), da wurde Knausgård gehyped. Das schreckte mich ab. Und dann fiel mir das Buch vor ein paar Wochen einfach so in die Hände, auf dem Weg zum Radio, und an demselben Abend habe ich daraus vorgelesen und konnte mit dem Lesen in der Sendung nicht recht aufhören.

      Das Leben geht manchmal sonderbare, gar merkwürdige (des Merkens würdige) Wege.

  2. Sofasophia sagt:

    Ist „Sterben“ Band 1? Dann habe ich es sogar auch gelesen, aber ich kann mich nicht mehr an diese geniale Passage erinnern. Die muss ich mir merken. Danke fürs Zitat!

    • Der Emil sagt:

      (Korrigiert.)

      Es scheint Teil 4 zu sein – ist aber das erste, das mir von Knausgard in die Hände fiel …

      Wikipedia listet die Reihenfolge so, daß es nach „Alles hat sein Zeit“ das zweite ist.

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