Nº 156 (2019): Ein Einblick

Niemand muß lesen, was ich über mein Leben schreibe.

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Wozu denn jeden Tag aufstehen, fragt die Depression, oder gar aus dem Haus gehen, das muß nicht sein, das strengt an, da treffe ich Menschen, muß reden: Genau deshalb gehe ich fast jeden Tag 4 km zu Fuß und auch einmal am Tag zu Fuß hoch in den neunten Stock. Beim Waschen und Zähneputzen werde ich naß, sagt die Depression, außerdem geht das nur im Bad: Aber ja, und weil ich mich selbst nicht riechen mag, steht auch das jeden Tag auf dem Plan. Hunger habe ich nicht, sagt die Depression, aber ordentlich Alkohol täte mir gut: Nun, ich esse trotzdem jeden Tag und gegen ein oder zwei Bier oder ähnliches ab und zu, also etwa zweimal pro Woche, wehre ich mich nicht, denn ich kann meinen Alkoholkonsum kontrollieren; aus diesem Grunde bin ich auch kein trockener Alkoholiker – und manchmal, zweimal im Jahr vielleicht oder dreimal, verliere ich auch diese Kontrolle gern und betrinke mich, ja, betrinke mich.

Manchmal glaube ich, daß ich zu müde bin für den täglichen Kampf. Aber nach ein paar sehr schlechten Tagen spüre ich wieder mehr. Dann herrscht Waffenruhe, Kampfpause, die ich genieße. Nach einigen entspannteren Tagen gibt es auch wieder gute Tage, richtig gute Tage, an denen ich alles schaffen kann, was ich schaffen möchte. Und ja, die Zahl der Tage ganz unten ist wesentlich geringer als sie aller anderen. Und doch weiß ich, daß es jederzeit wieder passieren kann. Habe ich Angst davor? Das kann ich nicht genau sagen, denn mittlerweile weiß ich ja, daß der guten Tage mehr sind. Und ich habe ja mittlerweile auch Hilfe unterscheidlicher Art gefunden.

Und doch höre ich sie jeden Tag, jeden einzelnen Tag, die Depression, wie sie mir einflü­stern will, daß irgendetwas nicht geht, unmöglich oder wenigstens überflüssig ist. Ich bin nicht die Depression, aber sie gehört zu meinem Leben dazu. Es gibt kein spezifisches oder unspezifisches Antidepressivum, daß bei einer Depression ähnlich wirkt wie ein Antibiotikum bei einer bakteriellen Infektion. Es gibt auch keine Vorbeugungsmaßnahmen, die eine bakterielle Infektion zu 100 % verhindern können, für die Depression gilt das auch.

Leben kann ich trotzdem, mit der Krankheit, mit der Depression und dem Diabetes auch. Und ich tu es und lasse andere davon wissen, also von meinem Leben, von meinen Träumen, von meinen Wünschen – und manchmal auch von den dunklen Momenten. Und ganz ehrlich: Ich lebe gern, seit Jahren schon lebe ich wieder gern, und das trotz der Tatsache, daß mein Leben nicht immer ein Genuß ist und ein Erfolg und pure Freude. Das mußte ich mir heute mal wieder in Erinnerung rufen.

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

P.S.: Am 05.06.2019 waren positiv ein Gespräch mit meiner Fallmanagerin, Mittagsschlaf, eine umsortierte Schublade.
 
Die Tageskarte für morgen ist der Bube der Stäbe.

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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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21 Antworten zu Nº 156 (2019): Ein Einblick

  1. Nati sagt:

    Mutmachend für alle Betroffenen, Emil.

  2. Arabella sagt:

    Es ist unglaublich schwer in dieser gelddimensionierten Gesellschaft Mitglied sein zu müssen.

  3. socopuk sagt:

    Danke für diese offenen Worte! Ich freu mich hr auf Juli! 🙂

  4. Gudrun sagt:

    Du kannst gut auf dich aufpassen, Emil. Es wird immer Höhen und auch Tiefen geben, aber du weißt, damit umzugehen. Du bist auch nicht allein. Bitte vergiss das nie.
    Grüße aus der heißen und staubigen Stadt nebenan.

    • Der Emil sagt:

      Hm. Ich kann gut vorspielen, daß ich gut auf mich aufpassen kann. Funktional eben, funktionierend.

      Und dann: Wie oft fehlt mir die Umarmung, die haltende/gehaltene Hand …

      • Gudrun sagt:

        Deshalb wünsche ich mir Wohngemeinschaften. Nicht immer sind das Lebenspartnerschaften, manchmal entstehen vielleicht welche. Luxus braucht es nicht, Kaffeetrinken unter einem alten Baum an alten Holztischen ist etwas Schönes. Mir ist ein windschiefer Gartenzaun, an dem sich eine Kürbispflanze hochrankt wichtiger als ein teures Gemälde im Wohnzimmer.
        Irgendwas kann jeder. Der eine repariert den Zaun und der andere züchtet die Kürbispflanzen. Ist eine Zimmertüre auf, kann man hineingehen, ist sie zu, will der Bewohner seine Ruhe und die bekommt er dann auch.
        Ich weiß, dass das Wunschdenken ist, aber es würde vielen besser gehen damit. Ich weiß es.

        • Der Emil sagt:

          Ach Gudrun, da sind wir einer Meinung. Und woran scheitert es zumeist? Nicht am Wollen und am fehlenden Mut. Ich muß darüber noch etwas nachdenken.

  5. piri ulbrich sagt:

    Leben ist doch etwas wunderbares – jedes Leben und das muss ausgekostet werden! …und nicht nur im Kino, Theater, auf der Bühne, für andere – nein, für uns selber!

  6. Sofasophia sagt:

    Danke. Sehr. Ein wohltuender Einblick.

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