2023/027 – Lesestoff


Kurzweil mit einem einstmals verbotenen Stück.

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Am Nachmittag saß ich, einmal mehr auf dem Ende eines Federkalters kauend und Ideen einfangen wollend, am Schreibplatz. Nach einer Weile griff ich zu einem wahrscheinlich über 100 Jahre alten Reclam-Bändchen, dessen dünner Papiereinband in undefinierbarer rosagelbbrauner Farbe verziert und in Fraktur bedruckt ist. Leider ist das sehr schmale Heftchen – es hat nur 40 Seiten – wirk­lich nicht mehr im besten Zustand. Es tat mir fast körperlich weh, die Seiten umzublättern. Ziemlich schnell hatte ich das ganze Drama in einem Aufzug gelesen: „Salome” von Oscar Wilde. RUB 4497. Übersetzt von Dr. Kiefer.

 

 

Kappadokier: In meinem Lande gibt es keine Götter mehr; sie sind von den Römern hinausgejagt worden. Man sagt, sie hätten sich ins Gebirge geflüchtet, aber das glaube ich nicht. Drei Nächte brachte ich im Gebirge zu, um sie zu suchen, fand sie aber nicht. Zuletzt rief ich sie mit ihren Namen; aber sie erschienen nicht. Sie sind wohl tot.

Oscar Wilde: Salome. Drama in einem Aufzug. S. 9
Universal-Bibliothek 4497. Leipzig. Verlag von Philipp Reclam jun. (um 1910)

 

 

Natürlich bleibt eine solche Aussage bei mir hängen. Denn in ihr kann das Wort Götter sehr leicht durch andere Worte ersetzt werden. Der Kappadokier scheint mir in seinem Glauben erschüttert, wenn nicht gar enttäuscht zu sein.

Das Buch ist nichts für zartbesaitete Leser:innen. Zu viele zeittypische (das Werk erschien erstmals 1893) Klischees. Zu viel „Adaption” biblischen Stoffes. Ich mußte mich immer wieder daran erinnern, daß die Menschen zu jener Zeit und erst recht zur (fiktiven?) Zeit seiner Handlung noch in ganz, ganz anderen Denkgebäuden unterwegs waren; damals gab es feststehende Meinungen zu bestimmten Gruppen und Völkern, die als Tatsachen angesehen wurden (was heutzutage natürlich nie nicht möglich sein kann). Wer damit zurecht kommt, hat vielleicht an diesem kleinen Stück Lesestoff (das Oscar Wilde im Original übrigens auf Französisch schrieb und nicht auf Englisch) einen kleinen Genuß einer altertümlichen, in vielen Bereichen längst überholten Sprechweise, die sich auf und im Theater in den 130 Jahren seither immer wieder gewandelt und doch erhalten hat.

 

Vorderansicht des über 100 Jahre alten Reclam-Universal-Bändchens 4497. Oscar Wilde: Salome. Oben und links grafisch geschmückt. Komplett in Fraktur-Schriften gesetzt.

20 Pfennig kostete damals Weltliteratur. Vorderansicht des Reclam-Bändchens Nr. 4497

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

 

P.S.: Am 27. Januar 2023 war ich zufrieden mit meiner Entscheidung für eine Wiederholung (dennoch schweren Herzens getroffen), mit der Nachmit­tags­lek­türe, mit einem kleinen Beutel voller aussortierter Dinge (Schachteln, in denen vor mehr als drei Jahren gekaufte Festplatten staken, über drei Jahre alte Kassenzettel, zerbrochenes Porzellan usw. usf.).

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Über Der Emil

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7 Antworten zu 2023/027 – Lesestoff

  1. Stefan Kraus sagt:

    Seltsam. Als junger Mann habe ich Wildes Gesamtwerk gelesen (es steht noch immer in meinem Bücherregal; von Büchern kann ich mich nicht trennen). Aber an Salome kann ich mich nicht erinnern. Offenbar werde ich alt. So alt, dass die altertümliche Sprechweise sicher bald wieder frisch wirken wird. Alte Denkgebäude. Geistesarchäologische Schätze. Schätze wie alte Reclam-Bändchen.

  2. Gudrun Ebert sagt:

    Salome ist in diesem Jahr auf dem Spielplan der Oper Leipzig. Die Strauss-Oper würde ich mir schon mal ansehen. Vielleicht kann ich mich aufraffen.

  3. Stefan Kraus sagt:

    „Es tat mir fast körperlich weh, die Seiten umzublättern.“ Hüte es für dich.
    Vielen Dank, Emil.

    (Solche Schätze könnten uns nachdenken lassen. Seit einer Weile denke ich z.B. über „Ehre“ nach. Ein heute altertümlicher Begriff. Als Wilde das schrieb, haben Unternehmer sich erschossen, wenn sie ihre Arbeiter nicht mehr bezahlen konnten. Heute klopft man ihnen auf die Schulter und zahlt Boni, wenn sie Personal wegrationalisieren. „Ehre“ wurde im Laufe der Zeit zu einem verkrusteten Begriff mit Fehlleitung. Seine Abschaffung führte zu einer verkrusteten Fehlleitung. Naja, was soll’s…)

  4. Bei „Salome“ fällt mir sofort ein blöder alter Schlagertext ein: „Salome, schönste Blume des Morgenrots…“

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