Nº 262 (2022) – Vermutungen

Ein Bestandteil des Alltags, oft unbenannt und unbewußt.

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Ein Kerl schleicht mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf an mir vorbei. Schleichen ist nicht ganz richtig, er bewegt sich langsam und unsicher: Nennt man das heute noch „schleichen”? Sein Gesicht sehe ich nicht. Ob er nieder­ge­schlagen ist oder nur verträumt? Traurig, krank, verkatert? Nur aus der Art, wie er geht, kann ich das nicht erkennen. Deshalb spiele ich gedanklich verschie­dene Szenarien (Wie nannten wir das früher: Möglichkeiten? Wahrscheinliche Abläufe?) durch: Was käme als Ursache infrage für jeden dieser von mir vermu­teten Zustände dieses nicht mehr Jugendlichen, der auch noch kein so wirklich ausgewachsener Mann zu sein scheint? Welche Schicksalsschläge haben ihn wohl getroffen?

Viele solcher Vermutungen bilde ich mir zu beinahe jedem Menschen, dem ich begegne, den ich sehe. Zu diesem Kerl mit den hängenden Schultern, zu der Frau dort mit dem hoch erhobenen Kopf, zum älteren Paar dort Hand in Hand, zu denen, die ich nur von hinten sehe und an denen mir trotzdem etwas auf­fällt. Auch zu den grauen Gestalten, die nicht gesehen werden wollen weil sie sich schämen und/oder ein schlechtes Gewissen zu haben scheinen. Alles Ver­mutungen, nur Vermutungen. Und meine Beurteilungen bauen viel zu oft nur auf Vermutungen auf. Auch wenn ich etwas lese im Netz, sei es in einem Blog, im Fediverse, bei Twitter oder sonstwo: Fast immer sind Vermutungen Bestand­teil dessen, was im Alltag gemeinhin Wahrnehmung genannt wird. Es sind zu oft Vermutungen, die schnell zu Vorurteilen werden (können).

Zu selten nur gestehe ich es mir ein, bemerke ich es selbst: Da waren und sind (nur) Vermutungen, die nicht Grundlage für eine Beurteilung sein dürfen.

Dessen möchte ich mir in Zukunft viel öfter bewußt sein.

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

 

P.S.: Gut fand ich am 20.09.2022 den fertigen und leckeren Linseneintopf (der wohl drei Tage reichen wird), die aus dem Kleiderschrank entsorgten Dinge, die „Funktioniert alles. Zu Verschenken.” hinausgestellte Technik (Lautspre­cher, Netzteile, Kopfhörer, Wecker).
 
Für morgen zog ich die Tageskarte Zehn der Stäbe.

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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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2 Antworten zu Nº 262 (2022) – Vermutungen

  1. C Stern sagt:

    Sehr anschaulich von Dir auf den Punkt gebracht, wie wir Menschen gemeinhin funktionieren! Danke für diesen wichtigen Beitrag!
    Genau über Deinen Überlegungen brüte ich selbst häufig, gerade heute wieder darüber gesprochen, wie leicht wir uns in Vermutungen begeben. Vorstellungen, die ihrerseits den Blick auf das, was tatsächlich ist, verstellen.
    Es gibt ein Zitat, das ich immer wieder gerne erwähne:
    „Ich bin nicht DU und ich weiß DICH nicht.“ – Ein Gedanke, den der Psychotherapeut Michael Lukas Moeller empfohlen hat.
    Mehr bei mir bleiben, nicht im Sinne von Egozentrik, sondern dahingehend, bei mir nachzuschauen, was ich zu verändern habe, an mir – und nicht für den anderen wissen wollend, was er am besten tun sollte. Das steht mir nicht zu!
    Aber jedenfalls meine Hand reichen, wenn sie gebraucht wird.
    Liebe Grüße, C Stern

    • Der Emil sagt:

      Zunächst danke ich Dir für Deine Sätze.

      Natürlich brauchen wir Menschen (ich glaube wirklich, daß alle Menschen so sind) die Fähigkeit, andere Menschen, Dinge und Vorgänge in Schubladen einzusortieren: gefährlich, ungefährlich, esßbar, giftig, wohltuend, übel … Das geht nicht ohne Vermutungen, die zu Entscheidungen über genau dieses Einsortieren führen, und zwar meist unbewußt. Aber: Ich vernachlässige sehr oft mein Wissen, daß es eben nur Vermutungen (gut, aus meinen Erfahrungen und denen anderer Menschen heraus) sind. Das ist mir in den vergangenen Tagen mehrfach aufgefallen.

      Ich werde nicht alle Einsortierungen prüfen (Nazis sind Nazis), aber ein paar mehr als bisher üblich ganz sicher.

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