Trainingsstand (2017: 016)

Aus Freiwilligkeit wurde Zwang

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(Wie ich es gestern sagte: Es ist vorbei.)

 

Zum Glück hatte ich es vergessen, verdrängt, sonst hätte ich schon seit Tagen Angst davor gehabt und wäre wütend gewesen wegen der Unanehmlickeiten, die davon bedingt sind. Seit heute also wird im Haus gebaut. Der Fahrstuhl wird erneuert. Das gute, alte TaKraf-Teil mit seiner Sprelacart-Kabine hat ausgedient, war auch für viele Neubewohner des Hauses etwas, das nicht mit der für seine problemlose Funktion erforderlichen Sorgfalt behandelt wurde. Deshalb sprang das Seil der Schließmechanik für die Kabinentür immer wieder aus der Rolle, deshalb lief ich öfter als gewünscht zu Fuß vom neunten Stock hinab oder mit schwerem Einkaufsrucksack und zwei prall gefüllten Einkaufsbeuteln von ganz unten in den neunten Stock hinauf.

Als ich hier einzog, 2006 im August, schaffte ich den Weg zu Fuß nach oben nicht ohne Pause. Hier vor der Wohnungstür wünschte ich mir oft ein Sauerstoffzelt und eine Hopfenauszugsinfusion. Lange Zeit war mir das egal. Aber als ich in der Tagesklinik war zum Jahresende 2011, da passierte es, daß ich dort Frühsport machen mußte, ich, der Spätaufsteher, der Nachtmensch, der Sportmuffel. Das hat mich angekotzt (und ich habe mich in der Frühsportphase mehrfach morgens vorher übergeben, nur weil mich der Scheiß psychisch so gestreßt hat). Frühsport also ist nichts für mich, echt nicht, noch immer nicht. Und trotzdem begann ich damals, wenn ich mich recht erinnere, damit, am besten einmal täglich heraufzugehen, auf den Fahrstuhl zu verzichten. Schaut nicht so ungläubig! Denn genau das habe ich seit 2011 getan, nicht wirklich täglich, aber an durchschnittlich fünf von sieben Tagen erklomm ich meinen neunten Stock zu Fuß. Das geht auch mit Last ohne Pause, und am Ziel habe ich seit Jahren nicht mehr das Gefühl, kurz vorm Kollaps zu stehen. Ja, ich schnaufe noch immer, ich rauche ja auch noch immer. Doch glaube ich, daß das beinahe jeder tun würde, der nicht wirklich gut trainiert ist.

Von heute an aber muß ich also fünf Wochen lang zu Fuß hinab und hinauf, insgesamt 154 Stufen mit den zehn vor dem Haus. Klar überlege ich jetzt wesentlich öfter, was mit hinunter muß und was ich mit heraufzuschleppen habe. Mehr als zweimal täglich mag ich nämlich nicht … Aber wenn es nötig ist, bleibt mir das trotzdem nicht erspart, dann werden das eben über tausend Stufen an einem Tag bei mehr als dreimal runter und rauf.

Übrigens ist das Treppensteigen nicht das Schlimmste an den Bauarbeiten. Nein. Viel schlimmer sind für mich die Geräusche, die die Arbeiter erzeugen (müssen). Hämmern, Schleifen, Bohren, Brechen, Sägen. Ab sieben Uhr in der Früh, die Mittagsruhezeit hindurch, bis nachmittags um vier ging es heute. Und nein, auch geräuschdampfende Gehörschutzmittel schaffen es nicht, für einigermaßen Ruhe zu sorgen. Ist doch hier im Neunten auch der Einstieg in das Maschinenhaus, das nur einen Stock höher, im Zehnten, mitten im Gebäude, direkt über dem an mein Bad grenzenden, akustisch wundervollen Fahrstuhlschacht ist. Zum Glück tragen auch die Arbeiter Geörschutz, so bleibt mir wenigstens das plärrende Baustellenradio womöglich noch mit “Privat”-Rundfunk erspart. Das wäre dann das Sahnehäubchen, das Tüpfelchen auf dem I, der das Faß zum überlaufen bringende Tropfen. Und es piept nicht, zum Glück, denn ich hasse diese Rückwärtsfahrwarngeräusch oder die Krawallftitteusen bei McDoof und Co. Und ich vermisse den “Laß-das-Scheiß-Gequatsche-aus”-Knopf in Aufzügen … (Keine Sorge, ich verstehe, warum und wozu solche Ansagen notwendig sind und finde sie gut, doch es sollte einen Stummschaltknopf geben, den ich zur Not gedrückt halten kann. Die Benutzung der Selbsbedienungskassen, die es hier in einem Supermarkt gibt, habe ich wegen deren Sprachausgabe wieder eingestellt.)

Fünf Wochen. Wenn sich die Bauarbeiten nicht ähnlich wie bei S21 oder BER gestalten. Fünf Wochen erzwungenes Treppensteigen. Der Zwang macht für mich den einen großen, den gewaltigen, den entscheidenden Unterschied. Denn selbst Dinge, die ich freiwillig gern mache, lehne ich ab, hasse ich, finde ich völlig unangemessen und bescheuert, wenn ich (nicht aus mir selbst heraus, nicht von mir selbst) gezwungen werde oder bin, sie zu tun. Das geht wohl nicht nur mir so. Für mich weiß ich genau, wann ich mir das Widerstreben gegen die Fremdbestimmung endgültig zugelegt habe: (kurz vor) Silvester 1987. Da war das dann so verfestigt, verinnerlicht, daß es mir seitdem wirklich, wirklich schwerfällt, anders zu reagieren.

 

Heute war ich zweimal unten. In fünf Wochen bin ich topfit.

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke für’s Lesen.

Der Emil

P.S.: Das Gute am 16.01.2017 waren eine wundervolle nette Unterhaltung, (bisher) eine Überraschung, 616 Stufen im Haus.
 
Die Tageskarte für morgen ist XX – das Gericht.

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Über Der Emil

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0 Antworten zu Trainingsstand (2017: 016)

  1. Clara HH sagt:

    Ich mache es bei mir auch freiwillig einmal am Tag – aber es sind bis zur achten nur 120 Stufen. Da ich ja den Zähltick habe, ist die Summe schon öfters überprüft.
    Allein geht es ja immer noch – aber was machen die Mütter, die neben dem Einkauf noch ihre Kinder auf dem Arm haben, das ist dann wirklich anstrengend.
    In einer meiner vorherigen Wohnung haben wir im 16. Stock gewohnt – und da wurde planmäßig Silvester gegen Mittag der Fahrstuhl abgestellt – wehe, man hatte noch was vergessen, was man aus der „Kaufhalle“ holen musste.
    Du wirst nach dem Umbau sehr, sehr sportlich sein.

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