Beim Lesen stolperte ich über einen Fragesatz.
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Ich habe mir 1988 oder 1989 ein Buch gekauft, das ich jetzt wieder zur Hand nahm. Christa Wolf verfaßte nicht nur die darin enthaltene Erzählung „Kassandra”, sondern stellte ihr „Vier Vorlesungen” voran, die sie unter dem Titel „Voraussetzungen einer Erzählung” zusammenfaßt. Darin läßt sie uns Leser teilnehmen an dem Weg, den sie von der ersten Idee bis zum fertigen Text gegangen ist. Mit Sicherheit nicht in jeder kleinen Einzelheit, dann das halte ich für schlichtweg unmöglich. Aber aus den vier Vorlesungen erfuhr ich, wie sie, die Christa Wolf, mit dem Stoff rang, sich ihn nach und nach erarbeiten mußte. (Daneben erscheinen meine Probleme mit meinen Texten geradezu klein: Wenn ich den einen nicht bewältigen kann, nehme ich einen anderen Stoff; genau so entstehen meine täglichen Texte.)
In der dritten Vorlesung, dem „Arbeitstagebuch über den Stoff, aus dem das Leben und die Träume sind”, notiert Christa Wolf unter dem Datum 10. August 1980 in Meteln [1] als ersten Satz diese Frage:
Sind vernunftbegabte Wesen denkbar, die nicht die Spaltung des heutigen Menschen in Leib/Seele/Geist kennen, sie gar nicht verstehen können?
Christa Wolf: Kassandra. Vier Vorlesungen Eine Erzählung S. 118
6. Aufl. 1988 © Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1983
Lizenznr. 301. 120/64/88 · Bestellnr. 613 020 6 — ISBN 3-351-00321-8
Diese Frage stellte sie sich vor über 40 Jahren. Und all das ertragene Ganzheitlichkeitsgetue und -geschwafel blieb wirkungslos. Alle Versuche, die Menschen wieder zu einem ganzen, ungeteilten Wesen zu machen, sind im großen, globalen Maßstab gescheitert. Natürlich gibt es noch immer abgelegen und zurückgezogen lebende Stämme, bei denen das Individuum nicht aufgeteilt wird – aber die Mehrheit, die übergroße Mehrheit … Warum ist das so? Wem nützt es, daß da in mir drei verschiedene, streng getrennte Teile am besten unabhängig voneinander wahrgenommen werden und funktionieren? Selbst wenn diese Trennung auf die beiden Elemente Psyche und Physis reduziert wird: Wem nützt das? Dem erkrankten Menschen nicht, dem gesunden Menschen nicht, dem heranwachsenden Menschen nicht, dem alternden Menschen nicht … Nicht dem Menschen im Kapitalismus, nicht dem Menschen im Sozialismus (hätte man damals gesagt).
Ich beantworte Christa Wolfs Frage dennoch mit einem überzeugten „ja”. (Und ich ergänze nahezu unhörbar für andere Menschen: Ja, es ist denkbar dann, wenn sich die Menschen ähnlich wie die Kugelmenschen des Platon zusammenfinden. Wer hatte noch nie das Bedürfnis, eine innere Zerrissenheit, eine gefühlte Unvollständigkeit zu überwinden?) Und auch beim wiederholten Lesen dieses Buches bleibt etwas hängen in mir, daß ich bisher nicht wahrgenommen habe.
Erinnerung des Tages:
Da existiert ein wortloses Verstehen zwischen zwei Menschen, das mit einem unbegrenzten Vertrauen einhergeht – das möchte ich so gerne wieder erleben.
[1] Christa Wolf lebte von 1975 bis 1983 (das Wohnhaus brannte nieder) mit ihrem Mann Gehrhard in Neu Meteln, einer kleinen Siedlung unweit der seit 1970 sich aufbauenden und sich auf die umliegenden Orte ausweitenden Künstlerkolonie Drispeth – ja, in der DDR. Zurück nach oben.
Mit einem Danke fürs Lesen schleiche ich mich davon.
P.S.: Zufrieden war ich am 6. August 2024 mit der Sicherheit in einer ganz bestimmten Sache, mit einem Mittagsschlaf, mit Gelesenem.
© 2024 – Der Emil. Eigener Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
(Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).
Jetzt hast du mich gepackt und neugierig gemacht auf Christa Wolf.
Nun, ich empfehle für den Anfang „Kein Ort. Nirgends.”
Oder eben das hier erwähnte Buch.
Danke
Die Trennung von Geist und Seele ist einfach eine geistesgeschichtliche ,,Errungenschaften“. Die hat die westliche Welt von den Griechen übernommen. Diese Trennung war den frühen Christen (die ja aus der jüdischen Glaubenswelt kamen) unbekannt. War es nicht Paulus (ein Grieche), der die Vorstellung der ,,Seele“ ins Christentum gebracht hat?
Die Vorstellung von zwei unterschiedlichen Sphären hat viel ermöglicht, aber auch viel kaputt gemacht. Ich habe gerade damit viel zu kämpfen, weil ich ja auf Teile meiner Empfindungen nicht oder nur sehr schlecht zugreifen kann.
Es ist noch nicht so lange her, da war mir vollkomen unbekannt, dass Emotionen auch ein körperliches Gefühl verursachen.
Je älter ich wurde, desto mehr Zweifel an diesem Konzept hatte ich. Vor allem aus der Erfahrung heraus, daß Angst sich auch körperlich bemerkbar macht, daß auch andere Gefühle körperliche (Re-)Aktionen hervorrufen.
Ich weiß nicht, ob es Paulus war, der den Mist einführte. Ich finde Platons Idee aber sehr schön, wenn ich sie auch nicht nur auf Mann & Frau beschränkt sehen will. Aber der Wunsch nach dieser Vervollkommnung durch einen anderen Menschen ist wahrscheinlich meiner Beziehungslosigkeit geschuldet. Als ich, als einzelner Mensch möchte ich auch heil und ganz sein, aber die Gesundheit habe ich mir schon selbst versaut.
Manchmal spüre ich diese Aufspaltung – und sie ängstigt mich ungemein!