2023/301 – Mensch


Wie lang darf ein Zitat aus einem Buch sein?

To get a Google translation use this link.

 

 

Ein verlorengegangener Tropfen des großen Feuers – daraus wurde die Erde. Als die Elemente sich zusammenfügten, wurde aus dem Feuer das Leben, aus dem Leben der Mensch. Das Feuer ist in ihm geblieben; er grub, forschte, analysierte und schuf sich, was ihm nützlich dünkte: Werkzeuge und Waffen, Häuser und Schiffe, Giftgas und einen Gott nach seinem Bilde, Tabakspfeifen und Brillengläser und auch Seife, um sich vom Schmutz zu reinigen. Doch da ist noch etwas in ihm, was der Reinigung bedarf, und dafür gibt es keine Seife.

So ist er noch immer, was er von Anbeginn war: nicht gut, nicht schlecht, ein Stück Dreck, ein Stück Natur, ein Teil der Materie, groß wie ein Riese, klein wie die winzigste Mikrobe, furchtsam wie ein Wurm, todesverachtend, hoffend und verzweifelnd, Teufel und Gott, Sklave, Herrscher und Aufrührer. Ein Suchender, zu schwach, um seine Begierde zu bezähmen, zu stolz und zu stark, um auf seine naturgegebenen Vorrechte zu verzichten. Ein Tropfen Kain, ein Tropfen Abel.

Der Mensch ist Natur wie die interstellare Materie, wie die Protuberanzen der Sonne, doppelgesichtig wie das Proton, das Elektron und all die anderen kreisenden Teilchen, von deren Existenz nur er allein Kenntnis besitzt. Er ist ein Stück Natur wie die Maus, wie die Spinne, der Waschbär, der Sperling oder auch der Wasserfloh. Und doch ist er anders. Der Mensch haßt und liebt und fragt: Warum? Der Mensch sucht. Er sucht auf der Erde, in der Luft, auf dem Meeresgrund und in den Weiten des Kosmos; und er findet immer wieder das gleiche: Teile seiner selbst.

Er hört nicht auf zu suchen, denn von Anbeginn bis zum Ende sucht er sich selbst, seinen Ursprung und sein Ebenbild. Und das ist mehr als Kinder zeugen oder essen und trinken. Und darum ist er mehr als Dreck, mehr als nur Materie, mehr als die Mikrobe, die Maus, die Spinne, der Waschbär, der Sperling, der Wasserfloh; mehr als das doppelgesichtige Proton, die interstellare Materie und die Protuberanzen der Sonne. Denn er kann rechnen und messen, wiegen und denken, und das höchste Denken besteht im Erkennen seiner selbst. Er wird nicht aufhören zu suchen, bis er das Echo seiner Stimme, sein Spiegelbild gefunden hat. [Hervorhebung: Der Emil]

Herbert Ziergiebel: Die andere Welt. S.53 f.
5. Auflage 1970 · Lizenz-Nr. 444-300/67/70 ES 8 C
© Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1966

 

 

Ein Stück aus einem phantastischen Roman, meiner Meinung nach eine Erklärung in der Rahmen­hand­lung. Eine Betrachtung des Menschen, eine Charakterisierung. Eine Wertung? – Ich stolpere noch immer und immer wieder über „seine naturgegebenen Vorrechte”.

Heute, also nicht nur an diesem einen Tag, sondern: In dieser unserer Zeit befürchte ich, daß der Zeit­punkt kommen wird, an dem der Mensch das Echo seiner Stimme und sein Spiegelbild findet. Und darüber erschrickt, davon erschüttert und in Angst und Schrecken versetzt wird. Und daß es dann zu spät ist für irgendwelche Veränderungen des Erschreckenden.

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

 

P.S.: Am 28. Oktober 2023 war ich zufrieden mit dem Ausschlafen bis zwölf, mit einem Stück Kirschstreuselkuchen mit Sprühsahne am Nachmittag, mit dem Tomatensalat zum Abendessen.


Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
Dieser Beitrag wurde unter 2023, Geschriebenes, One Post a Day abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

3 Antworten zu 2023/301 – Mensch

  1. @deremil Das Erschrecken ist schon gegenwärtig.😏

  2. Gudrun sagt:

    Das erste Mal richtig erschrocken war ich in den Achzigern des vergangenen Jahrhunderts. Das war aber noch nicht so schlimm für mich, wie ich es jetzt empfinde. Nach einer anfänglichen Starre kann ich jetzt wieder klarer denken und finde Menschen, mit den ich mich verstehe. Es ist alles wage ausgedrückt, aber irgendwann gibt es auch bessere Worte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert