Vom Schäfer, der einem Schaf hinterherhastet, und seiner Frau.
Und natürlich vom Schaf.
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Das ist mein 13. Adventskalender. Ich widme ihn allen, die kämpfen, allen, die krank sind, allen, die Unterstützung benötigen. Möge allen Menschen eine im wahrsten Sinne des Wortes wundervolle Weihnachtszeit beschieden sein. Meine Kerzen brennen insbesondere für Menschen und Tiere, die Hoffnung und Trost brauchen.
„Renn doch nicht so” ruft sie ihrem Mann hinterher. Der allerdings denkt keineswegs daran, langsamer zu werden oder gar stehenzubleiben und auf sie zu warten. Nein, er hastet weiter und dreht sich nicht einmal zu ihr um, als er erwidert: „Aber das Schaf ist sonst weg!” Die Frau keucht heftig. Sie kann den Abstand zu ihrem Mann zwar nicht verringern, doch sein Vorsprung vergrößert sich auch nicht.
Und das Schaf? Das läuft mähend – nein, es mäht nicht den Rasen, es macht nur laut „Määäh”, wie ausgelassen über Stock und Stein springende Schafe das so tun – immer weiter. Mal taucht es hier auf, mal ist es kurz vorm Horizont zu sehen. Und der Mann immer knapp dahinter, ohne es wirklich zu erreichen. Und hinter dem Mann seine Frau. Jetzt ruft sie wieder: „Bleib endlich stehn! Laß doch das Schaf laufen!” Aber der Mann hört noch immer nicht. Er läuft weiter, will das Schaf unbedingt wieder einfangen und in seinen Pferch bringen. Ein Schaf, ein einzelnes Schaf! Das hat sich seit biblischen Zeiten nicht geändert. In der Bibel nämlich findet sich im Lukas-Evangelium das Gleichnis vom verlorenen Schaf in Luk 15, 4-6:
«(4) Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, so er der eines verliert, der nicht lasse die neunundneunzig in der Wüste und hingehe nach dem verlorenen, bis daß er's finde? (5) Und wenn er's gefunden hat, so legt er's auf seine Achseln mit Freuden. (6) Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.»
Zitiert aus der Lutherbibel 1912
Und so läuft das Schaf weiter und weiter. Und der Schäfer läuft dem Schaf hinterher und seine Frau läuft ihrem Mann hinterher, der dem Schaf hinterherläuft. Und sie kann ihm zurufen was immer sie ihm zurufen mag, er wird nicht stehenbleiben. Weil er, wie der Schäfer im biblischen Gleichnis, dieses eine Schaf wiederhaben muß, noch vorm Weihnachtsfest. Nur wenn ich Mitleid habe und die Kerzen auf der Pyramide ausblase, dann können sie alle stehenbleiben und ein wenig verschnaufen. Und ich höre die Frau dann auch nicht mehr schimpfen. Das Schaf aber wird trotzdem niemals eingefangen werden.
Geständnis 1: Ab und zu sitze ich mit Kaffee und Spekulatius zum Beginn der Abenddämmerung am Tisch und sehe der/den Pyramiden zu, wie sie sich drehen. Vielleicht läuft dazu noch leise Weihnachtsmusik und der Duft einer Räucherkerze breitet sich aus im Zimmer.
Geständnis 2: Ich befürchte, daß auch ich das Loslassen sowenig gelernt habe wie der Schäfer in meinem Text (ja, das ist auch eine Interpretationsmöglichkeit). Es gibt in meinem Leben Einiges, ohne das ich nicht sein will.
Geständnis 3: Diesen Text habe ich in seiner ursprünglichen Fassung bereits im 5. Türchen 2013 veröffentlicht, also von mir „geklaut” und etwas überarbeitet. Das Bibel-Zitat, so umstritten das auch sein mag, blieb dabei im Text erhalten.
Ich schleiche mich davon und wünsche eine schöne Adventszeit.
Wer eine Gelegenheit sucht, zur Weihnachtszeit anderen zu helfen, der kann das im Dezember täglich ab 21 Uhr des Vorabends bei der Versteigerung von #hand2hand22 tun. Die Aktion ist eine gute Idee von Meg, ihr und allen Mitwirkenden danke ich dafür von ganzem Herzen.
P.S.: Gut fand ich am 02.12.2022 den Mut zur Wiederverwendung, das diesmal ganz andere „Weihnachten im Schuhkarton”, die sich nach dem Wechsel des Steins wieder drehende Pyramide.
Die Tageskarte für heute ist das Ass der Schwerter (verspricht u. a. entscheidende neue Ideen).
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Guten Morgen. Ich dachte als erstes an den kapitalistischen Hintergrund, Schaf=Besitz=Geld. Danke für soviel mehr Sichtweisen … Ich werde das heute beherzigen …
Guten Morgen erstmal und herzlich willkommen hier.
Ich gestehe, daß ich erst jetzt, neun Jahre nach Entstehung dieser Geschichte, auf meine zweite Interpretation gekommen bin (die vom 2. Geständnis). Ich weiß, daß das nicht gemeint ist mit dem biblischen Gleichnis. Nur war diese andere Verständnismöglichkeit der Anstoß dazu, diesen Text erneut zur Hand zu nehmen …