103–2024: Vertrauen

Zweimal Mut führt zu unerwartet Unvergeßlichem.

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Es ist alt, es hat Knicke an den Ecken, es beginnt zu verblassen. Ich hüte dieses Bild wie meinen Augapfel, habe es überall dabei und schon mehrfach überlegt, es zu laminieren. Aber dann wäre es nicht mehr dieses eine Bild. Und auch die drei Abzüge, die ich im Laufe der Jahre vom noch immer vorhandenen Negativ machen ließ, sind nicht dieses Bild. Denn es hat eine besondere Geschichte.

Vor vielen Jahren sprach ich jemanden an, ob ich nicht ein paar Bilder machen dürfe mit meinem Fotoapparat. Es gab schon Digi­tal­kameras, die ersten, die nicht nur briefmarkengroße Bildchen machen konnten. Aber in den Mobiltelefonen waren Kameras noch absoluter Luxus. Ich hatte eine Spiegelreflex dabei und sprach sie einfach an, direkt vor einem Drogeriemarkt, in dem ich gerade meinen Vorrat an Filmen ergänzt hatte. Welche Bilder wo gemacht werden können, sollte sie alleine entscheiden. Wenn ich nur fotografieren dürfe. Ich wollte nur fünf oder sechs der Fotos für mich haben, alle anderen und alle Negative würde ich ihr geben. Als sie mir sagte, daß ich nicht so viel quasseln und auch sie zu Wort kommen lassen soll, rechnete ich mit einem „wir kennen uns nicht, vergessen Sie's ganz schnell”. Doch dann war ich baff. Jetzt gleich hatte sie Zeit und auch eine Idee, wo sie sich von mir fotografieren lassen wollte. Und ab dem Moment war ich nur noch der, der tat, was sie sagte, und dem sie in dieser außer­ge­wöhn­lichen Situation vorbehaltlos und grundlos und uneingeschränkt vertraute.

Es wurde ein wunderbarer Nachmittag auf einer kleinen Lichtung. Vier Filme mit je 36 Bildern gab ich danach bei einem noch selbst entwickelnden Fotografen ab, die Abzüge waren am übernächsten Tag fertig. An diesem Nachmittag dann trafen wir uns wieder vor der Drogerie, saßen danach im Eiscafé und sahen uns die Ergeb­nisse von der Lichtung an. Ja, sie war sehr zufrieden damit. Nein, die Negative wollte sie nicht, die dürfe ich ruhig behalten. Und die fünf oder sechs Bilder, die ich behalten wollte, sollte ich mir einfach neu anfertigen lassen. Eine Bitte hatte sie noch: Ich sollte sie nie wieder ansprechen oder anrufen, die Fotos und der Nachmittag seien alles, was wir jemals voneinander und miteinander gemein­sam hätten. Es sollte eine Erinnerung bleiben an ihren Mut und an eine Zeit, in der sie sich seit langem wieder einmal frei gefühlt hatte.

Ich sah sie öfter, hielt mich aber an die Absprache. Von allen Negativen ließ ich mir nur dieses eine einzige Bild abziehen, dieses eine, auf dem sie so gelöst lacht. Ich habe es nie jemandem gezeigt, es nie irgendwo an der Wand hängen gehabt. Aber ich trage es seit Jahren mit mir herum, immer und überall. Und die später angefertigten Abzüge verschwanden in meinem Schreibtisch und wurden nie wieder hervorgeholt. Die Negative? Ja, die habe ich auch noch, aber auch die sah ich mir nie wieder an. Ich habe Angst, daß ich mir mit denen das Besondere der Erinnerung an sie und den Nachmittag beschädigen könnte.

 

 

Erinnerung des Tages:
Im Bahnhof FFM sah und fotografierte ich vor Jahren einen leidenschaftlichen Luftgitarrespieler.

 

Mit einem Danke fürs Lesen schleiche ich mich davon.

Der Emil

 

P.S.: Zufrieden war ich am 12. April 2024 mit der früheren Abfahrt, mit den eine Stunde verspätet klappenden Anschlüssen, mit den nach langer Zeit wiedergesehenen Freunden.

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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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2 Antworten zu 103–2024: Vertrauen

  1. Sofasophia sagt:

    Tolle Miniatur.

    Schön, dass du da bist, in der Runde.

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