2023/313 – Erbstück 020


Tagebuch A: Donnerstag, 20. Januar.

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Aus irgendeinem Grund wurde ich heute erst kurz vor 14 Uhr wach. D. h. ich habe mindestens zehn Stunden durchge­schla­fen bzw. mich auch in dem wundersamen Zustand zwischen Schlafen und Wachen befunden, in dem ich mich wegen der üblichen Träume so gerne aufhalte. Naja. Viel hatte ich mir für heute sowieso nicht vorgenommen: Die Papierhaufen-Sache von gestern, die wollte ich zuendebringen.

Es tauchte in der Nacht der Traum von gestern wieder auf, zum Teil als Wiederholung, und danach als Fortsetzung in einer für mich interessanteren Dramaturgie und mit mich begeisternden Sze­nen­bildern. Ich wüßte gern, wie lang dieser Traum tat­säch­lich dauerte – ich weiß nicht, ob es überhaupt Untersuchungen und verwertbare Zahlen zur Traumdauer gibt … Aber ich werde nicht nach solchen Daten suchen, denn was nützt mir dieses Wissen über statistische Angaben, wenn ich etwas über mich, über etwas mir Eigenes erfahren will? Ob es vielleicht sowieso angebracht wäre, auch auf vielen ganz anderen Gebieten mir solches Vergleichbarkeitswissen nicht anzueignen?

Ist ja auch so, daß ich die ständige Vergleicherei für überflüssig halte. Bei mir führt(e) sie oft dazu, daß ich mich weniger gut fühle, mich dabei sogar selbst abwerte. Das beobachte ich auch bei anderen Menschen, bei Fremden und Bekannten. Selbst bei einigen, denen ich zu ersten Mal begegne, glaube ich das wahrnehmen zu können. Und ich vermute, daß die Vergleicherei nicht gerade unschuldig ist an dem wachsenden Egoismus, der m. M. n. so ziemlich überall vermehrt anzu­treffen ist oder sogar überhandnimmt. „Ich! Ich! Ich!” Das ist der Kampfschrei derer geworden, die eigentlich von Vielem mehr als genug haben, um es ohne Verluste teilen zu können. Fallen da die Einzelne, der Einzelne die da nicht mitbrüllen, überhaupt noch auf? Und muß, wer nicht mitbrüllt, wirklich leer ausgehen oder sich mit den bei der Verteilung herun­ter­fallenden Brosamen, mit wenigen übriggebliebenen Resten zufriedengeben, abfinden? Die gegenseitige Hilfe, die nach den Erzählungen unserer Großeltern und Eltern nach dem Krieg für viele Jahre allgemein üblich, ja, sogar ziemlich selbst­ver­ständlich war (und hier noch länger als dort), die scheint es einfach nicht mehr zu geben. (Außer unter den Ärmsten der Armen: Die, die wenig haben, teilen mehr und häufiger als die, die mehr als genug haben.) Ich jedenfalls teile auch, ich teile auch ungefragt und unaufgefordert, das ist für mich noch immer Herzensangelegenheit.

Ich war dann doch noch in der Stadt. Sah wieder einen mit „Zu verschenken” beschriebenen Karton voller Bücher. Eines, eines nur davon nahm ich mit: Heinrich Heines „Buch der Lieder”. Vom Insel Verlag Anton Kippenberg in Leipzig 1967 in 13. Auflage herausgegeben, gesetzt, gedruckt und gebunden vom VEB Offizin Andersen Nexö in Leipzig mit der Schrift Walbaum-Antiqua. Sogar die Schriftart steht da im Impressum – das würde ich mir für heutige Bücher auch wünschen! Das von Heine selbst verfaßte Vorwort zur dritten Auflagen (von 1839) ist zur Hälfte in gereimten Versen gefaßt, und dieser Umstand war es, der mich dieses Buch und nur dieses Buch mitnehmen ließ. Es ist kein Werk, das in einem Rutsch gelesen werden wird; das schaffe ich bei Gedichtbänden nie. Aber schon in der Straßenbahn fiel mir XXXIII auf: „Ein Fichtenbaum steht einsam / Im Norden auf kahler Höh.” (Lyrisches Intermezzo)

Trotz des langen Schlafens bis nach der Mittagszeit bin ich jetzt schon müde, dabei ist es kaum halb zehn. Ich gähne. Dann ist es wohl an der Zeit, das Fenster zu öffnen, das Licht auszu­machen und ins Bett zu gehen, dessen andere Seite noch immer leerbleibt. Wo sie wohl ist? Ich kann mich nicht daran erinnern, heute auch nur einmal an sie gedacht zu haben – ob das ein gutes Zeichen ist?

 

 

Mit diesem Text wird das geerbte Tagebuch fortgesetzt. Alle Teile der Erb­klad­den-Serie sind in diesem Link in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge (neueste zuerst) zu finden. Über eines der Notiz­bü­cher erzählte ich ja schon vor langer Zeit, im November 2012. Ich tippe die kleinen blauen lateinischen Buchstaben ab, immer mal wieder. Erst jetzt nämlich darf ich abschreiben aus den „von einem Freund geerbten” Kladden mit dieser winzigen Schrift.

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

 

P.S.: Am 9. November 2023 war ich zufrieden mit gebügelter und wegge­räum­ter Wäsche, mit Numiroso, mit gelesenen Sätzen.

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Über Der Emil

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3 Antworten zu 2023/313 – Erbstück 020

  1. Muldenkind sagt:

    @deremil Was muss ich tun, um deinen Blog lesen zu können?🙏

    Jetzt ging es. Danke dir. Werde mich etwas in Geduld üben.
    Heine mag ich sehr, und ja – es braucht Zeit

  2. Pingback: 020–2024: Erbstück 021 | GeDACHt | Geschrieben | Erlebt | Gesehen

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