Auch noble Damen haben kleine Geheimnisse am Morgen.
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Es geschieht nicht allzu oft, aber gerade in den ersten Tagen des Septembers nutzt Tante Erdmute die angenehm kühlen Temperaturen am Morgen. Sie steht etwas früher auf als sonst, wirft sich den Morgenmantel über und geht aus dem Haus. Ihre Pantoffel streift sie auf der untersten Stufe ab, und dann macht sie einen beherzten Schritt in das feuchte Gras neben dem Weg. Sie las irgendwann, daß das „Tautreten” der Gesundheit zuträglich sei. Sie glaubt die esoterischen Heilsversprechen der Alternativmedizin zwar nicht, doch sie fühlt, daß ihr der Bodenkontakt guttut. Zumindest dann, wenn die Temperaturen wie heute ganz angenehm sind. Bald hat sie den Bereich des Rasens erreicht, der schon von der Sonne beschienen wird. Noch ist das Gras taufeucht, noch berühren die bloßen Füße angenehm kühlen, aber nicht zu kühlen Untergrund. Sie lächelt beim langsamen Gehen vor sich hin. Denn Tante Erdmute erinnert sich an den Satz, den ihre Großmutter immer im Munde führte: „Den Kopf halt' kühl, die Füß' halt' warm – das macht den reichsten Doktor arm!” Ja, Doktor war damals der übliche Begriff für Mediziner, Ärzte. Der Spruch, so denkt sie sich, geht ja auch nicht gegen die Ärzte, sondern ist ein Ratschlag, wie man sich vor Erkältungen und anderer Unbill schützen sollte.
Nach einiger Zeit ist die Frau im Morgenmantel lange genug barfuß durchs Gras gegangen. Im Schatten ist der Rasen deutlich kühler als in der Sonne. So schnell sie kann, geht sie zur Haustür zurück, zur Treppe, auf der ihre Pantoffel stehen. Ach, wo hat sie nur das Handtuch gelassen, mit dem sie ihre Füße abtrocknen könnte? Vergessen. Einfach vergessen. Und jetzt? Mit den nassen Füßen müöchte sie aber auch nicht in ihre Pantoffel schlüpfen. Soll sie barfuß feuchte Spuren im Haus hinterlassen? Nein, das würde er ja bemerken, und wer weiß, welche Schlüsse er daraus ziehen könnte. Also, was tun? Sie schaut sich um, ob sie nicht vielleich beobachtet wird. Nein, niemand zu sehen. Also läßt Tante Erdmute ihren Morgenmantel ein gutes Stück hinabgleiten – hoffentlich sieht sie wirklich niemand hier vor der Tür im Nachthemd stehen – und tritt die Füße auf dem Morgenmantel ab. So, wie sie das sonst auf dem Handtuch tut. Und heute muß sie sich nach der Prozedur nichteinmal mühsam (aber auch das soll niemand wissen, daß ihr das Bücken schon schwerer fällt als früher) vom Boden aufheben; sie muß nur die Pantoffel antiehen und ihren Morgenmantel wieder hochziehen.
Auf dem Weg ins Schlafgemach nimmt sie auch das Handtuch wieder mit, das auf dem unteren Ende des Treppengeländers hängt. Und sie überlegt, ob sie es wirklich noch brauchen wird in Zukunft, wenn sie wieder hinausgeht am Morgen. Das mit dem Morgenmantel hat ja auch geklappt? Und ob sie sich sogar trauen könnte, ihn einmal um seine Begleitung beim Tautreten zu bitten?
Mehr kleine Geschichtchen von dieser Dame, von Tante Erdmute finden sich im Menü „Geschriebenes → Tante Erdmute”.
Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.
P.S.: Am 8. September 2023 war ich zufrieden mit dieser und einer weiteren Geschichte von Tante Erdmute, mit der Anreise ohne große Störungen, mit dem relativ entspannt geschafften Aufbau.
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