2023/219 – Wandlung


Da war und ist etwas, das ich mit der Depression lernen mußte.

To get a Google translation use this link.

 

»In meiner Bewertung kommt das Warten gleich nach dem Mißerfolg. Wenn ich etwas beginne und es nicht fertigbringe, nicht schaffe, es mir nicht gelingt, mißlingt, kein Erfolg meine Mühen krönt, sonder nur ein häßlicher Mißerfolg bleibt und mich an vergeblich inverstierte Zeit und Kraft und was weiß ich noch erinnert. Gleich danach kommt das Warten. Nicht das in Vorfreude verbrachte, sondern das „erzwungene” Warten auf irgendetwas und irgendwen. Bei einem Arzt- oder Pflicht­ter­min, wo ich dann eine halbe Stunde nach Verstreichen der vereinbarten Uhrzeit noch immer warten muß. Vertane Zeit, vergeudete, meine Zeit, von anderen gering geschätzt. Doch das Warten einfach zu beenden, ab­zu­bre­chen, wegzugehen: Nein, das geht nicht, das ist in meiner Welt ein Mißerfolg. Und weil mir die Geduld fehlte, ich nicht mehr warten wollte, bin ich auch für diesen Mißerfolg verantwortlich.«

So steht es geschrieben in einer der alten Kladden aus der Zeit, da ich mich sehr gründlich mit mir beschäftigen mußte. Also damals in der teilstationären Therapie 2011. Allmachtsphantasie. Es dauerte, bis ich den Wahrheitsgehalt dieses Wortes verstand: Ich und nur ich war in der Depression für alles Unglück verantwortlich, auch für das, welches anderen Menschen in meinem Umfeld geschah. Es war ein schwerer Weg, diese Allmachtsphantasie abzulegen; trotz­dem passiert sie mir habe ich sie auch heute noch ab und zu. Außerdem habe ich mir mit der Zeit einen Satz zueigen gemacht, den mir jemand immer dann sagte, wenn ich der Ichkümmeremichumalles sein wollte. »Die sind auch schon groß und dürfen das selbst ganz alleine machen; wenn sie wirklich Hilfe brauchen, können sie ja fragen.« Ein Mantra? Weiß ich nicht. Nein, kein Mantra, aber ein hilfreicher Satz. Auch mit dem Warten gehe ich anders um. Ich nutze meine Zeit währenddessen. Früher hatte ich zum Beispiel in meiner Angst, ein Aufge­ru­fen­werden zu überhören, mich nicht einfach in ein Buch einzutauchen getraut, nichteinmal zu lesen habe ich mir erlaubt. Heute kann ich das. Auch in meine Kladde kann ich schreiben, obwohl da immernoch eine kleine Befürch­tung ist, daß ich in einem großen, bedeutenden Satz gestört werden könnte. (Ich gebe zu, hier muß ich etwas kichern.) Klar, es ist sogar schon passiert, und ich war in der Lage zu sagen: »Moment, ich bring' den Satz noch zuende.«

Selbst nach diesen vielen Jahren bin ich nicht geheilt von der Depression. Sie kommt immer wieder, ist zur rezidivierenden geworden bzw. rezidivierend geblieben. Ich weiß, wie ich damit umgehen sollte, und schaffe es manchmal doch nicht »nach Lehrbuch«. Ich weiß seit einiger Zeit, es ist ein Erfolg, wenn keine Verschlechterung eintritt! (Und es ist nicht mehr der Mißerfolg der nicht eintretenden Besserung.) Das hat allerdings nicht das Geringste mit »Positiv Denken« zu tun, nicht das Geringste. Das ist ein Lernerfolg. Ebenso wie es ein Lernerfolg war, die Allmachtsphantasie als Allmachtsphantasie zu erkennen. Das Warten von vergeudeter zu genutzter Zeit zu wandeln – und es auf diese Weise weit weg vom Mißerfolg einzustufen. Und nicht jedes Mißlingen, Nicht-Schaffen zum Mißerfolg zu erklären.

 

Manchmal stelle ich mir vor, daß die Depression eine Schildkröte ist, auf der ich von Zeit zu Zeit durch mein Leben reite. Allerdings kann ich dieses Bild nicht erklären, nicht einmal mir selbst erklären.

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

 

P.S.: Am 8. August 2023 war ich zufrieden mit der gebügelten und wegge­räum­ten Wäsche, mit dem Lesen in alten Kladden (und den so formulierbar gewordenen Gedanken), mit den gegessenen Lebkuchen.

©2011 & © 2023 – Der Emil. Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
CC by-nc-nd Website (Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).

Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
Dieser Beitrag wurde unter 2023, Geschriebenes, One Post a Day abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

7 Antworten zu 2023/219 – Wandlung

  1. Sonja sagt:

    habe diesbezüglich von einem sehr provokativen Therapeuten zwei Sätze gelernt:
    Bitte nicht helfen! Es ist auch so schon schwer genug (inzwischen ein Buchtitel) – und
    Depressionen, das kommt von Depp.
    An diesen Sätzen lange geknabbert. Wie gesagt, war provokativ gemeint!
    Gruß von Sonja

  2. Flusskiesel sagt:

    Das Bild mit der Schildkröte beschäftigt mich irgendwie. Vielleicht, weil die Depression ja in der Regel eher langsam ist oder man während eines Schubes mitunter wie in Zeitlupe lebt?

    Vor meinem geistigen Auge sehe ich auf jeden Fall einen traurigen Mönch auf einer Schildkräte reiten.

  3. Sofasophia sagt:

    Es freut mich sehr, das alles so zu lesen.

    Ja, die „Macht der Gedanken“ gibt es auch fernab der „Positivdenkerei“. Tatsächlich ist es eher die Perspektive, die wir ändern und aus der wird dann eben eine veränderte Sicht auf die Dinge. Und so können wir Situationen anders betrachten und bewerten = anders denken. Unterm Strich halt schon auch positiver. Aber von der andern Seite aufgezäumt.

    Und ja, dass die anderen ja auch schon groß sind, musste ich ähnlich mühselig wie du lernen. 🙈 Und ich lerne es noch immer.

  4. Gudrun sagt:

    Du hast den schweren Weg gut gemeistert, lieber Emil. Meinen Respekt hast du. Ich weiß, dass das nicht einfach war und sicher nie abgeschlossen sein wird.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert