2023/110 – Himmelblau


Auch so kann ich mein Erleben beschreiben.

To get a Google translation use this link.

 

Es gibt Momente, da frage ich mich, was das für eine Farbe ist, dieses Himmel­blau. Denn – ihr wißt es ja bereits – für mich ist der Himmel häufig „nur” grau, ganz gleich, ob da Wolken sind oder nicht. Das passiert immer wieder, ohne daß ich mich wirksam dagegen wehren kann. Das ist, als gerate ich auf einen glitschigen Abhang und kann das Hinabrutschen nicht komplett verhindern. Ich habe im Lauf der Jahre gelernt, das Rutschen abzubremsen, zu verlangsamen, und ich kann zumeist verhindern, daß ich am unteren Ende des Abhangs über eine Kante ins Boden­lose stürze. Dann liege ich bäuchlings am Boden, rutsche nur noch lang­sam. Dann liege ich still, eine ganz Weile, regungslos, kraftlos, ängstlich. Bis ich mir sicher bin, daß das Rutschen aufgehört hat. Langsam nur und angsterfüllt krieche ich nach oben. Bis ich mich mühsam auf alle Viere erhebe. Weiter­krabbeln und dabei nicht ruckartig bewegen, um auf keinen Fall wieder ins Rutschen zu kommen. Manch­mal brauche ich ein paar Stunden, manch­mal brauche ich ein paar Tage, ab und zu braucht es Wochen, ehe ich mich wieder aufgerichtet habe. Und noch später erst habe ich die Kraft, den Kopf zu heben und nach vorn und nach oben zu schauen, um es zu entdecken, was ich so oft nicht sehen kann. Da ist es, das Blau des Himmels, das Himmel­blau. Das in einer depressiven Episode für mich wirklich nicht sichtbar ist.

Wenn ich so darüber schreiben kann, geht es mir (wieder) recht gut.

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

 

P.S.: Am 20. April 2023 war ich zufrieden mit einer vorproduzierten Sendung, mit einer weiter aufgeräumten Festplatte, mit im Aufzug erhaltenen Geschenk (eine Leckerei, die mir zum letzten Tag des Ramadan gegeben wurde).

© 2023 – Der Emil. Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
CC by-nc-nd Website (Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).

Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
Dieser Beitrag wurde unter 2023, Erlebtes, One Post a Day abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

12 Antworten zu 2023/110 – Himmelblau

  1. Lieber Emil wir wünschen Dir einen Regenbogen, so dass du wenn du nach oben schaust nicht nur den blauen Himmel siehst.

  2. Nati sagt:

    Ich habe lange darüber nachgedacht was ich dazu schreiben soll.
    Gar nicht einfach, weil man als nicht Betroffene kaum nachfühlen kann wie es sich anfühlt mit dieser Erkrankung durch das Leben zu gehen. In meinen Bekanntenkreis gibt es auch eine Person mit Depression, ich sehe sie etwa 1x die Woche. Bei ihr ist ein normales Leben, mit all den alltäglichen Pflichten, kaum möglich.
    Da hofft man einfach nur, dass die Medikamente oder erlernten Strategien greifen. Da ich deine Beiträge ja täglich lese, bekomme ich mit wie aktiv du trotz allem bist.
    Ich wünsche dir, dass dir diese Aktivität weiterhin erhalten bleibt und du es immer wieder schaffst den Blick nach oben zu richten. Das Leben ist schön und bietet viel, trotz allem.

  3. Sofasophia sagt:

    Mittendrin oder gar noch ganz unten jemandem die Hand zu reichen, war mir lange nicht möglich und vielen Betroffenen geht es damit ähnlich. Ich wünsche dir, dass du das irgendwann kannst. Und auch, dass du eines Tages nicht mehr abrutschst. Und dass der blaue Himmel immer häufiger vor deinen Augen sichtbar ist.

  4. C Stern sagt:

    Lieber Emil,
    es ist berührend, dass Du so offen über Depression und depressive Episoden schreibst. Umso mehr, mit welchen Worten Du davon schreibst: Es ist, als würde man mitfallen, mitrutschen, mitkrabbeln, mitkriechen – mir geht es jedenfalls so. Sicherlich auch deshalb, weil ich sehr genau weiß, worüber Du schreibst. Für mich ist es kein reines Mitlesen, sondern ein Wiedererkennen eigenen Erlebens.
    In jungen Jahren, als ich noch nicht ahnte, was mir einst selbst widerfahren sollte, war mir noch gar nicht bewusst, dass man mit dieser Krankheit ein gesellschaftsfähiger Mensch sein kann. Erst, als sich in Ö ein sehr geschätzter, beliebter und täglich sichtbarer Journalist dazu offenbarte, war mir klar, dass diese Menschen arbeiten können. Und wie – und mit welcher Kraft, Präsenz und Würde!
    Heute weiß ich es noch besser, denn ich weiß, dass ich auch dazugehöre. Das weiß ich, seit ich aus meinem ersten Burnout mit inkludierter heftiger Depression aufgestanden bin. Dieser sehr schmerzvolle Prozess hat ein Jahr lang gedauert – und im Rückblick gibt es dennoch auch viele Momente der Dankbarkeit. Mein Verständnis für Menschen ist enorm gewachsen – wenngleich ich anderen gegenüber nie gleichgültig war. Aber ich kann heute vieles besser tat.sächlich nachvollziehen.
    Insofern weiß ich, dass solche Episoden leider immer wieder kommen können, umso wichtiger ist es, dass wir den Kopf heben, um den blauen Himmel zu sehen – sooft wir es eben können.
    Ich bin dankbar, dass mir ein normales Arbeitsleben möglich ist, es muss allerdings sinnerfüllt sein. Dann kann ich sehr viel leisten, aber ich brauche auch viel Zeit für mich selbst.
    Ich weiß, dass es nicht allen Menschen möglich ist, einer (bezahlten) Arbeit nachzugehen – und dennoch leisten diese Menschen sehr viel. Vor allem auch dadurch, dass sie andere zum Nachdenken anregen!
    Ich schicke Dir ganz liebe Grüße und bedanke mich für Deinen mich sehr berührenden Beitrag! Großartig geschrieben …

  5. Bei mir fühlt es sich nicht wie Abrutschen an, es geht eine dunkle Walze über mich weg, die mich zu Boden drückt. Das kann auch unterschiedlich lange dauern, bevor ich wieder aufblicken kann.
    Abrutschen ist eklig, das kann ich mir vorstellen und auch ich wünsche dir, dass es nicht so schnell wieder passiert.
    Beste Grüße Gerel

  6. Gudrun sagt:

    Meine Tochter musste mit ihrer Schwiegermutter in LA zum Arzt. Dauernd war etwas anderes, aber alle Diagnostik ergab nix. Der Arzt verschrieb ein Medikament, was sie mal eine Zeitlang nehmen sollte, „damit der Himmel wieder blau ist“. Jetzt verstehe ich das, was er meinte.
    Wenn ich deine Zeilen lese, fühle ich mich so hilflos. Ich würde für die Betroffenen den Himmel gerne blau streichen, aber sie sehen das ja nicht. Ich wünsche dir, dass du ganz oft nach oben blicken kannst und der Himmel nie ganz grau ist.
    Grüße aus der Stadt nebenan

    • Der Emil sagt:

      Vielen Dank.

      Was oft nicht verstanden wird: Um eine helfende Hand anzunehmen, zu ergreifen, muß ich selbst irgendwie (mindestens mit einer Hand) loslassen, das verbliebene Restchen (Schein-)Stabilität aufgeben – und das macht Angst, große Angst …

      Bei mir wirken die Himmelblau-Pillen übrigens nicht sofort, nicht gleich, sondern das dauert.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert