Tagebuch A: Freitag, 7. Januar.
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Heute früh war schon halb Neun der Kaffee fertig. (Ich habe bisher nicht erwähnt, daß ich mit dem Kaffee früh vorm Rechner sitze und in Blogs rumlese, Kommentare schreibe. Ach, und wenn noch Mail ist, wird auch die noch bearbeitet. Weil das zur stinknormalen Routine gehört wie der morgendliche Gang aufs Klo, scheint mir das wirklich nicht erwähnenswert gewesen zu sein bisher.)
Verdammt, ich will doch nur Tagebuch schreiben. Aber das geht grad nicht, weil mir viel zu viel anderes durch den Kopf geht. Will ich dem hier Platz geben? Will ich mehr als nur meinen Tagesablauf und meinen Alltag, will ich auch meine Vergangenheit (und meine „Geheimnisse”) hier festhalten? Bleibt da die Chronologie des Tagebuchs erhalten? Oder nicht, oder doch? Immer wieder macht mir meine Unentschlossenheit zu schaffen, die ich im Angesicht von Ungewißheit jedes Mal nicht vermeiden kann. Und statt jetzt Inhalte zu produzieren, notiere ich unausgegorene Gedanken. Andererseits weiß ich nicht, wo ich das alles sonst hinschreiben soll oder kann. Eine weitere, eine andere Kladde? Zerfasere ich mich damit nicht zu sehr? Oder aber stiftet das thematische Durcheinander nur Verwirrung bei den Lesern? (Aber was kümmere ich mich um die Leser, denen ich sowieso nie begegnen werde, weil sie all das hier frühestens nach meinem Ableben lesen werden?)
Ich saß lange Zeit herum heute und war in Gedanken versunken. In meiner Vergangenheit. Ich kenne Teile davon nicht (mehr), weil ich lange Zeit so Vieles verdrängen mußte. Das hängt mir heute wie Klötze an den Beinen, das macht mir so manchen Gedankengang nahezu unmöglich. Ausgerechnet mir, der ich immer und überall die Freiheit des Denkens – d. h. auch der völlig abwegigen Gedanken – so vehement verteidigen und fördern will, sind so, auf diese Art manche Gedanken unmöglich! Nun, ich gebe mir seit einiger Zeit wirklich Mühe, mein Leben einmal ohne jede Beschönigung, ohne Lüge, ohne Verbesserung verstehen zu wollen. Mittlerweile bin ich mir aber gar nicht mehr so sicher, ob das wirklich nötig ist: das eigene Leben verstehen. Vielleicht wissen eines Tages die, denen ich meine Kladden hinterlasse (so sie sie auch annehmen), diese Frage zu beantworten.
Vor lauter Denkerei habe ich es heute kaum geschafft zu lesen. Vielleicht waren es zwei oder drei Seiten – ich habe das Lesezeichen zurückgelegt an die Stelle, an der es gestern Abend schon lag. Viel ist nicht mehr übrig vom Buch, das mich jetzt für einige Zeit beschäftigte. Der wichtigste Unterschied zwischen einem Buch und dem Leben ist die Möglichkeit, ein paar Seiten zurückzublättern und das Geschehen nocheinmal und nocheinmal und immer wieder zu erleben. Ganz besonders trifft das ja auch auf Tagebücher zu, nicht wahr? Das hier ist ja nicht mein erstes Tagebuch, ich schrieb schon mehrere, mehr oder weniger täglich. Doch die finde ich nicht mehr alle; ich weiß nicht, wo die geblieben sind, die ich vor über zwei Jahren geschrieben habe. Die sind weg – ich habe sie in der Wohnung einfach nicht wiedergefunden. Die letzten zwei, dieses und alle folgenden aber sollen bleiben, die werden von mir testamentarisch an irgendjemanden vermacht, an ein Archiv, vielleicht ans Stadtarchiv, wo sie dann aufbewahrt werden müssen und vielleicht irgendwann von jemandem gelesen und aufgearbeitet oder einfach weggeschmissen werden. Natürlich klingt das jetzt, heute, hier nicht wenig größenwahnsinnig. Aber Papier ist meiner Meinung nach noch immer wesentlich langlebiger als jede Nachricht in diesem Internet. Und in der Zukunft lassen sich am und auf Papier bestimmt noch Dinge erkennen, die zum heutigen alltäglichen Leben dazugehören.
Am Abend gönnte ich mir ein Glas Sauerfleisch. Ich mag den Geschmack, das Saure, das Gelee. Und wie so oft konnte ich mich nicht beherrschen und fraß das ganze Glas leer. Genau, das ist einfach mangelnde bzw. fehlende Selbstbeherrschung – aber es ist auch verdammt lecker. Vorhin habe ich den „Laden II” endlich ausgelesen (gut, drei Seiten bleiben mir noch für gleich). Ein schönes Buch, von der Sorte brauch ich mehr. Ich muß mich also bald einmal schlaumachen, wer ähnlich wie Erwin Strittmatter schrieb oder schreibt.
Und die andere Hälfte des Bettes ist noch immer leer.
Mit diesem Text wird das geerbte Tagebuch fortgesetzt. Alle Teile dieser Erbkladden-Serie sind in diesem Link in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge (neueste zuerst) zu finden. Über eines der Notizbücher erzählte ich ja schon vor langer Zeit, im November 2012. Ich tippe die kleinen blauen lateinischen Buchstaben ab, immer mal wieder. Erst jetzt nämlich darf ich abschreiben aus den „von einem Freund geerbten” Kladden mit dieser winzigen Schrift.
Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.
P.S.: Am 6. März 2023 war ich zufrieden mit dem Mittagsschlaf, den beiden eingehaltenen Schreibzeiten, mit dem endlich angesehenen und mich mit einigen Fragen zurücklassenden Film „23 – Nichts ist so wie es scheint”.
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(Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).
@deremilObwohl voll logisch und klar, finde ich den Satz irgendwie beeindruckend. "Der wichtigste Unterschied zwischen einem Buch und dem Leben ist die Möglichkeit, ein paar Seiten zurückzublättern und das Geschehen nocheinmal und nocheinmal und immer wieder zu erleben."Thx 🙂