Früher habe ich mich vorm Erkennen gefürchtet
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Dorf im Nebel
Herbstlicher Blick aus dem Fenster.
Ich sitze am Fenster und sehe ins nebelige Dorf hinaus. Die Häuser kenne ich und oft kann ich mich an die erinnern, die früher darinnen wohnten. Aber. Aber viele von denen sind weggezogen, haben ihre Namen geändert oder leben nicht mehr. Und so lausche ich den Erzählungen der Verwandtschaft und weiß nicht, von wem da die Rede ist. Längere Abwesenheit macht sich sehr deutlich bemerkbar. Von den Menschen, die aus den Häusern heraustreten oder in sie hineingehen, kenne ich kaum jemanden.
Es gibt Konstanten in den Dörfern. So heißen gar manche Leute noch immer nach dem Haus, in dem sie leben, obwohl sie schon seit über 50 Jahren einen anderen Namen tragen. Auch Geschäfte, besser gesagt ehemalige Geschäfte dienen noch immer als Orientierungspunkte: längst geschlossene Bäckereien und Fleischereien, kleine Lebensmittellädchen, geschlossene Gaststätten und Kneipen, selbst in der Geschichte verschwundene Handwerksbetriebe leben in den Wegbeschreibungen im Dorf weiter. Und so gehören auch heute die Spitznamen der früheren Dorfberühmtheiten (dr Wedl-Tahv, de Bittlich-Fraa) zu den Ortsangaben. Selbst die heutige Jugend verwendet sie noch, ohne etwas über diese Menschen und deren Geschichten zu wissen.
Eine Generation ist hier im Dorf ziemlich genau auf zwanzig Jahre beschränkt: Nach 20 Jahren werden die Gräber wieder eingeebnet, daher käme das, wird erzählt. Gleichzeitig leben noch Leute, die dreißig und mehr Jahre älter sind als ich – das muß die Generation meiner Großeltern sein. Doch die Generation meiner Eltern ist auch schon über 80 Jahre alt. Und meine Generation? Nun, die geht jedenfalls hier im Dorf langsam in Rente oder stirbt. Ich habe es selbst gesehen auf dem Friedhof (offn Gottsacker). Denn heutzutage gibt es viele Gräber, deren Inschriften auf dem Grabstein ein Geburtsjahr zeigen, das nur zwei oder drei Jahre vor oder nach meinem Geburtsjahr liegt. Und so stand ich vor einem dieser Gräber und überlegte, ob früher, als ich noch hier im Dorf lebte, auch so viele Sechzigjährige starben …
Als ich den Friedhof verlasse, geschieht es: Ich werde erkannt und werde angesprochen und erkenne selbst und grüße zurück und bleibe stehen. Schon nach wenigen ausgetauschten Worten werde ich mit dem neuesten Dorftratsch versorgt, von dem ich zwar nur die Hälfte verstehen kann, dem ich aber dennoch lausche. Eine ab und zu eingestreute kleine Bemerkung (Gibts net, naa. Sooch bluuß?) zeigt mein Interesse, so daß es immer mehr Einzelheiten gibt immer mehr und wer mit wem usw. usf. Aber dann, dann wird das Bündel Tannengrün schwer, mit dem das Grab abgedeckt werden soll, und die ehemalige Mitschülerin eilt den Weg hinauf zu „ihrem” Grab.
Dorfleben. Etwas wie diesen Tratsch kann es nur auf dem Dorf und unter Alteingesessenen (Alteigesaassne) geben. Oder?
Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.
P.S.: Gut fand ich am 18.11.2022 einen Spaziergang im Nebel, den Dorftratsch, viel Zeit zum nachdenken.
Für morgen zog ich die Tageskarte Königin der Stäbe.
© 2022 – Der Emil. Text Bilder unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz (Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).
Nicht unbedingt.
Solch einen Tratsch gibt es auch in Großstädten wie meiner.
Solange man lang genug in der selben Straße/Wohnung/Haus lebt.
Also: Ich wohn jetzt 16 Jahre im Haus. Solche Tratsch hab ich da noch nicht erlebt 😉
Wusstest du, dass Tratschen gesund ist? Jaja, ist so. Und Tratschen ist ja inhaltlich nicht immer etwas Schlechtes.
Weil ich auch immer den Erzählungen meiner Mutter nicht mehr folgen konnte und nicht mehr wusste, wer wer ist, habe ich vorsichtshalber jeden gegrüßt, den ich traf im Dorf. Irgendwann kam mir mal zu Ohren, dass man mich für einen freundlichen Menschen hielt. Prima Es hat nicht weh getan und gekostet hat es auch nichts.
Es war heute nur so überraschend und so, als wäre ich nicht mehr als 20 Jahre weggewesen …
Ich kann Nati beistimmen, kenne diesen Tratsch auch in der Stadt.
Doch in der Peripherie oder überhaupt im Dorf ist’s sicher noch intensiver. Die Vergleiche habe ich – vor allem kann man sich in Dörfern nicht so gut aus dem Weg gehen, wenn man es denn gerne wollte 🙂
Da ich beides kenne, Stadt- und Landleben, Stadt- und Landtratsch, so nehme ich doch einen Unterschied in der Intensität wahr.
Ich bin sowas von tratschinkompetent. Das Leben im Dorf, wo ich aufwuchs hat mich damals nicht interessiert und heute noch weniger, und auch im jetzigen auch nicht. Aber diese Ortsbezeichnungen und Dorfnamen fand ich als Kind höchst faszinierend. Wenn ich (selten genug) im „alten“ Dorf, das heute sehr gewachsen ist und modern, versuche ich mich an die Namen der Häuser zu erinnern, aber sie fallen mir, bis auf wenige, nicht mehr ein.