Nº 290 (2022) – Gesendet

Kurz nach dem Erwachen, während sie noch auf den Kaffee wartet, der sich mühevoll durch die Maschine röchelt, fühlt sie sich schlapp, ausgelaugt, müde. Sie sieht im Bad in den Spiegel und erkennt sich dort am Muster der Sorgenfalten im Gesicht. Ist da noch etwas anderes zu erkennen? Nein. Leuchtende Augen sah sie im Spiegel schon seit längerer Zeit nicht mehr. Weil sie jeden Morgen, jeden Tag nur noch müde, schlaff, ausgelaugt beginnt und übersteht. Der Kaffee ist fertig, die Milch zum Glück nicht sauer. Drei Kekse ißt sie, zu jeder Tasse Kaffee einen. Danach erst setzt sie sich an den anderen Tisch, klappt den Rechner auf und sucht nach Nachrichten für sich. Außer Werbemails – was soll sie mit Penisvergrößerungen und Investment-Ideen? – ist da heute nichts; das ist ungewöhn­lich. Auch keine Rechnung, keine Mahnung, keine Mitteilung über Preis­er­hö­hungen. Ihr Freundeskreis wurde über Nacht von Katastrophen verschont, denn auch solche Nachrichten gibt es heute nicht. Sie beginnt, selbst eine Nachricht zu verfassen, etwas Bedeutungsvolles, Philosophisches und Positives, einen Merk­satz vielleicht oder einen Kalenderspruch, löscht den Text aber immer wieder. Das ist alles nichts für die Menschen in ihren Netzwerk. So vergeht ungefähr eine halbe Stunde. Dann endlich schafft sie es, einmal auf Senden zu drücken:

„Guten Morgen. Heute ist kein Tag wie jeder andere. Heute ist jeder andere Tag. Mittelgrau.”