Nº 193 (2022) – Unwetter

Und immer diese Ruhe vor dem Sturm.

To get a Google translation use this link.

 

 

Ein Wind weht. Eine steife Brise würden es die Leute im Norden nennen. Woanders wäre es vielleicht ein leichtes Stürmchen. Ich nenne es Wind. Dagegenstemmen muß ich mich noch nicht, aber leicht hineinlehnen funktioniert. Bald wird es wohl ein Gewitter geben oder hoffentlich wenigstens einen ordentlichen Regen. Ja klar werd ich dann naß, heftig naß. Ich hab ja auch noch knapp eine Stunde Fußweg vor mir und so lange wird es nicht rocken bleiben. Wenn ich es recht bedenke, warte ich jeden Moment auf das Einsetzen der Ruhe vor dem Sturm. Auf den Moment, da der Wind sich legt, ehe ein Unwetter losgeht. Und dann? Vielleicht finde ich einen dichtbelaubten Baum, unter dem ich mich unterstellen kann.

Die Ruhe vor dem Sturm gibt es ja auch im übertragenen Sinne. Wie bei meinen Nachbarn letztens beobachtet. Gehört durch die dünnen Wände des Hauses, in dem wir Wand an Wand wohnen. Erst stritten sie sich mittellaut, drei oder vier Tage lang. Dann war es wieder normal leise bei ihnen. Für einen Tag. Ich hoffte, daß sich bei den beiden alles wieder eingerenkt hätte. Aber am darauffolgenden Tag flogen die Fetzen, knallten Türen, fielen einige Dinge aus dem Fenster. Es stand aber niemand vorm Haus. Der Sturm bei Nachbars schien damit schlagartig beendet. Ich hörte die Nachbarin weinen. Lange schluchzen. Und dann hörte ich Musik. Und ich stellte mir vor, daß die Nachbarn eng aneinandergeschmiegt einen Stehblues tanzten.

Windstille. Von einem Moment auf den nächsten, und kein passender Baum in der Nähe. Ich gehe etwas schneller. Dann ein erster Donner. Ein Blitz und ein weiteres Donnern, automa­tisch beginne ich zu zählen, aha, etwa zwei Kilometer entfernt von mir. Es beginnt sanft zu regnen, wie ein leichter Sommer­re­gen huscht Wasser über die trockene Erde. Ich gehe weiter, genieße dabei die leichte Abkühlung, die mit dem Regen ein­setzte. Hinter mir sehe ich nur noch fahles Wetterleuchten. Heimwärts, nur heimwärts. Das Shirt ist jetzt an Schultern und Rücken durchnäßt. Egal, es ist aushaltbar. Und der Regen wird gebraucht. Kurz vor der Haustür ist es wieder völlig windstill und es fällt nur noch ein leichter Niesel. Jetzt renne ich die letzten hundert Meter doch noch. Vielleicht ist das erst die richtige Ruhe vor dem Sturm. Ich sehe den Niesel draußen zu einem starken Regen werden. Dann ein ohrenbetäubender Kracher. Das Licht im Haus flackert und verlischt. Der Fahrstuhl scheint auch stromlos zu sein, nichts rührt sich mehr.

Nach vielen dunklen Stufen im sechsten Stock angekommen störe ich meine Nachbarn anscheinend bei einer Verab­schie­dung: Sie stehen in ihrer Wohnungstür und knutschen wie verliebte Teenager. In ihrem Flur brennen mehrere Kerzen und spenden versöhnlich warmen Schein. Beim Schließen meiner Wohnungstür sehe ich noch, wie er losgeht und sie ihm, splitternackt im Kerzenschein stehend, feengleich nachwinkt – und dabei blickt sie mich belustigt an. Was bin ich froh, daß ich Raucher bin und mein Zippo mir in meinem stockdunklen Flur spärliches Licht spendet.

 

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen über das nie so erlebte Unwettergeschehen.

Der Emil

 

P.S.: Gut fand ich am 13.07.2022 das relativ frühe Aufstehen um 8.30 Uhr, den erledigten Einkauf zu Fuß (der Bus- und Tramverkehr wurde heute ganztägig bestreikt), die beinahe abgeschlossene Sendungsvorbereitung.
 
Für morgen zog ich die Tageskarte Drei der Münzen.

© 2022 – Der Emil. Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
CC by-nc-nd Website (Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).

Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
Dieser Beitrag wurde unter 2022, Geschriebenes, Miniatur, One Post a Day abgelegt und mit , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

6 Antworten zu Nº 193 (2022) – Unwetter

  1. Jana Rau sagt:

    Was für ein schöner, optimistisch stimmender Text.

  2. Jana Rau sagt:

    Streit kommt und vergeht-meistens- wieder, genau wie ein Sturm oder Gewitter. Man sollte ihm nicht zu viel (Gedanken)Raum geben Und oft ist nach dem Sturm die Luft klar und und das Atmen und Lachen und Leben geht wieder ganz leicht. Wie in deiner Geschichte. Ich kann die Erleichterung des Paares und des Erzählers spüren. Insofern optimistisch, keine Verzweiflung, Chaos, Wut, …

  3. Sofasophia sagt:

    Ein feiner Text, den ich sehr gern gelesen habe. Ich nehme an „nicht erlebt“?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert