Nº 031 (2022) – Illusionen, die andere Menschen erkennen

Lesegedanken beim Einblick in fremde Welten.

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Regelmäßig schlage ich (meiner Erinnerung nach) ungelesene Bücher auf und versinke in ihren Welten. Versinke in den Welten, die Bücher in mir erschaffen, entstehen lassen, Welten, die ich zu den Büchern erdenke und erfühle. Das geht nicht mit allen Büchern so: Als ich letztens wieder einmal Marx' „Kommu­ni­stischens Manifest” las, waren es nicht Welten, aber doch gute Gedanken an eine Utopie.

Von meinem SuB nahm ich ein vor vierzig Jahren erschienenes Buch. „Wahre Geschichten aller Ard(t). Aus Tagebüchern.” von Erwin Strittmatter. (Ich weiß, Eva und Erwin tauchen hier sehr oft auf; aber ihre Literatur rührte in mir und rührt in mir noch immer etwas an, etwas Schönes nud Gutes.) Im Nachwort schreibt seine Ehefrau Eva Strittmatter: „ Das Tagebuch an sich und als Ganzes ist Strittmatters Geheimwelt, jene innere Existenz, die jeder Schreibende braucht.” (Hervorhebungen wie im Buch.) Und ich lese die Tagebucheinträge – wiewohl sie vielleicht für das Buch nocheinmal „aufbereitet” wurden oder gerade deshalb – als wären sie zu großen Teilen Einträge aus meinen Kladden, in denen ich auch immer wieder dies und das festhalte und mich oft sogar wiederhole. Allerdings erreiche ich in meinen Worten noch lange nicht diese Dichtheit und Klarheit. Erwin Strittmatter scheint in seinen Tagebüchern täglich ein (kleines) Stück großer Literatur geschrieben zu haben:

 

 
1. Mai 1967
 

Bis jetzt kann ichs nicht fassen, daß ich einst nicht mehr sein soll, und dann werde ichs nicht fassen, daß ich sein soll.

Dieser Umstand läßt mich vermuten, daß ich stets bin und daß das Sein und das Nichtsein Illusionen sind, die mir meine Sinne vermitteln.

Erwin Strittmatter: Geschichten aller Ard(t). Aus Tagebüchern. S. 11
3. Aufl. 1984, © 1982 Aufbau Verlag Berlin und Weimar
Lizenznr.: 301. 120/51/84 · Bestellnr.: 612 783 2

 

 

„ … daß ich stets bin und daß das Sein und das Nichtsein Illusionen sind” hab ich auch schon gedacht, nicht in so wohlgesetzten Worten, nein, das nicht, aber auch mich beschäftigt das (soger öfter als mir lieb ist). Und wer kann schon fassen, daß eins nicht mehr sein soll oder wird? Gibt es wirklich Menschen, die nie über das auf ihr Ende Folgende nachdachten oder -denken? Echt?

Für mich ist bewundernswert, wie jemand gleich zwei so große Probleme des Menschseins in zwei so kurzen Absätzen formulieren kann, konnte. Ich kenne Erwin Strittmatter ja auch anders, nämlich als opulenten Schilderer und Erzähler (aus seinen großen Werken). Doch diese Tagebucheinträge zeigen einen Menschen mit Zweifeln und Hoffnungen, also nicht den großen Dichter, den gefeierten Schriftsteller, der er neben so vielem Anderen war. Mir zeigt sich ein „einfacher” Mensch, wie es ihn in jenem kleinen Lande zu Zeiten seiner Existenz zuhauf gab. Und wenn ich nun einen Blick in meine Kladden werfe, dann verstehe ich mich ein wenig besser: Das Tagebuchschreiben ist kein Spleen, nicht überflüssig, nicht umsonst.

(Leider finde ich keinen abschließenden, abrundenden Satz als Ende dieses Textes.)

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

 

P.S.: Gut fand ich am 31.01.2022 den mich weckenden Anruf, die Entdeckung an meiner Thermoskanne, das Draußen trotz des grauen Wetters.
 
Für Morgen zog ich die Tageskarte Sieben der Schwerter.

© 2022 – Der Emil. Eigener Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
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Über Der Emil

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3 Antworten zu Nº 031 (2022) – Illusionen, die andere Menschen erkennen

  1. Das Tagenbuchschreiben habe ich jetzt auch wieder angefangen – und auch schon einen Artikel darüber in der Schublade.
    Tiefe Gedanken sollen im Grunde da rein, so wie beim vorgestellten Strittmatter, aber ich weiß, dass solche Vögelchen nicht so ohne weiteres vorbeikommen 🙂

    • Der Emil sagt:

      Meine eigenen Worte erscheinen mir beim Wiederlesen oft so banal — und doch war mir das Notierte im Moment so wichtig, daß ich es aufschrieb. (Manchmal „rettet” mich dieser Gedanke.)

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