Das tägliche Kleingeld für den Mann mit der Bratsche.
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Das ist mein 12. Adventskalender, den ich all denen widme, die kämpfen, allen, die krank sind, allen, die Unterstützung benötigen. Möge uns allen eine im wahrsten Sinne des Wortes wundervolle Weihnachtszeit beschieden sein. Meine Kerzen brennen insbesondere für Menschen (und Tiere), die Hoffnung und Trost brauchen.
Ach, es ist kalt geworden. Naja, Schnee liegt ja leider immer noch nicht. Aber die Pfützen sind ab und an schon den ganzen Tag lang mit Eis bedeckt oder gar durchgefroren. Wie gut, daß da die letzte Schicht für das Jahr mit der Kehrmaschine gefahren ist. Urlaub über die Weihnachtszeit! Was ist das auch in diesem Jahr wieder für ein Luxus. Zuhause sind die Plätzchen gebacken, der Christstollen ist auch schon fertig (und sogar schon angeschnitten). Wir haben es auch geschafft, fast alle Geschenke für unsere Kinder so rechtzeitig zu besorgen, daß die noch keinen Verdacht geschöpft haben. Auf dem Heimweg habe ich in der Straßenbahn Zeit, um an die vergangenen Jahre zu denken.
Am Weihnachtsabend steht bei uns zuhause immer ein überzähliges, mittlerweile fünftes Gedeck auf dem Tisch. Wir Eltern mußten es den Kindern mehrmals erklären, daß das „für den unerwarteten Gast” gedacht ist. Und wir haben ihnen über die Herkunft des Weihnachtsfestes erzählt, wie sie von der Kirche unter die Menschen gebracht wurde. Also die Geschichte von der Flucht der schwangeren Frau mit ihrem Liebhaber, die an einem Abend eben kein richtiges Pensionszimmer mehr fanden und deshalb das Angebot annahmen, doch in einem Stall zu nächtigen. Oh, das war nicht der schlechteste Platz, denn im Stroh bei den Tieren ist es durchaus um einiges wärmer als draußen. Na, ihr kennt ja die Geschichte, denn in dieser Nacht in diesem Stall soll dann Jesus geboren worden sein. Jedenfalls: Irgendwann vor drei oder vier Jahren fragten die Kinder meine Frau und mich, wie denn die Weihnachten feiern, die in der Stadt stehen und betteln oder Musik machen für die Menschen und dafür ein bißchen Kleingeld bekommen? Das war eine besondere Adventszeit, weil wir in jenen Wochen einmal genauer hingesehen haben, wie es den Menschen auf der Straße so geht. Und haben dann beschlossen, daß wir beide einen gewissen Teil unseres Weihnachtsgeldes abgeben an Menschen auf der Straße oder Organisationen, die diesen Menschen helfen. Im ersten Jahr gaben wir der Bahnhofsmission Geld. Dann den Beteibern der Suppenküche und der Wärmestube. Im vergangenen Jahr überlegten wir sehr lange hin und her und konnten uns nicht wirklich auf eine Organisation einigen. Eines Tages fragte dann der Jügere: Was, wenn ihr es den Menschen auf der Straße direkt gebt? Er glaubte nicht, daß das alles Säufer oder Junkies sein sollen. Nein, da sind viel mehr ganz normale Menschen dabei, die wegen Krankheit oder Arbeitslosigkeit zuwenig Geld haben. Manche, so erzählte er, haben noch eine Wohnung, manche haben keine mehr. Ich war erstaunt. Woher wußte er das alles? Ach, das sei nichts Weltbewegendes. Beim Radioprojekt hätten sie versucht, mit solchen Menschen ins Gespräch zu kommen und eine Sendung über sie zu machen. Und das hat ihn eben beeindruckt. Wie schwer das Leben für diese Menschen ist, denen das Selbstverständlichste der Welt fehlt: ein Zuhause, eine Familie.
Meine Frau und ich kamen dann überein, es eben genau so zu machen. Den Menschen direkt etwas Geld zu geben. Selbst, wenn wir dadurch nur sehr wenigen ein anderes Weihnachtsfest ermöglichen könnten, so wären das doch Menschen, die … Wir wußten nicht, welches Wort uns da fehlte. Ich wußte jedenfalls vor zwei Wochen vor meinem Urlaub schon, was ich mit meinem Weihnachtsgeldteil machen würde. Auf dem Weg vom Feierabend nachhause. Da galt es. Denn einer der Menschen, der auch ein schönes Weihnachtsfest, ja, vielleicht sogar eine etwas längere schöne Zeit haben sollte, war der Kerl mit der Geige. Jeden Tag bei der Schlußrunde auf dem Markt hatte ich ihn das ganze Jahr über stehen und spielen sehen. Und in dem Jahr waren ja wegen der Seuche gerade zum Advent auch weniger Menschen unterwegs, und die, die unterwegs waren, gaben sicher weniger, weil niemand die Muße hatte, seiner Musik zuzuhören. Und an meinem letzten Arbeitstag hatte ich endlich einmal die Gelegenheit, seinem Spiel zuzuhören. Mir fiel auf, daß er nicht nur die Weihnachtsschlager spielte, die in den Einkaufszentren und Geschäften aus den Lautsprechern dudeln. Da war andere Musik dabei, die ich irgendwann mal in einer Kirche gehört hatte. Und lieder aus meiner Kindheit. Irgendwann war ich oft genug um ihn herumgeschlichen, ging auf ihn zu und bat ihn, eine Pause zu machen. Der Geiger sah mich ziemlich unerfreut an. Oh nein, ich wollte ihn nicht wegschicken. Ich dankte ihm für sein Spiel auf der Geige, daß ich übers Jahr so oft gesehen hatte. Ziemlich wütend sagte er, daß er nicht Geige spiele. Das Instrument in seiner Hand: Eine Bratsche. Eine Bratsche! Gut, dann also eine Bratsche. Ich versuchte ein Gespräch zu beginnen mit diesem Menschen, fragte ihn nach seiner Wohnung und danach, was einer durch Geigespielen – Verzeihung – Bratschespielen so verdiene am Tag. Er wurde dann beinahe boshaft, denn das alles ginge mich nichts an. Und überhaupt.
Ich versuchte, ihm im Schnelldurchgang zu erklären, was ich warum tun wollte. Ihm soviel Geld geben, daß er bis ins Neue Jahr hinein zuhause im Warmen bleiben könnte, weil er sich eben einmal nicht um Geld sorgen müßte. Jajaja, schipfte er, für hundert Euro könne er um einiges läger als für eine Woche einkaufen. Er schimpfte und gestikulierte herum und wollte sich nicht beruhigen. Ich hatte das Geld mittlerweile in der Hand. Nein, hundert Euro hatte er nicht, davon konnte er schon lange Zeit nur träumen. Wir feinen Pinkel hätten ja alle keine Ahnung! Da reichte es mir. Ich hielt die Hand mit dem Bogen fest. Die dreihundert Euro, mit denen er sich eine Auszeit gönnen dürfte, legte ich da hinein. Ich dankte dem in meinen Augen deutlich sichtbar überforderten und verärgerten Bratscher dafür, daß er so oft den Menschen ein kleines Lächeln ins Herz zauberte. Und wenn ich jeden Tag, da ich ihm mit seiner Geige – Bratsche! bellte er barsch, Bratsche! – zuhören konnte, einen Euro gegeben hätte, dann wäre es ziemlich genau diese Summe gewesen. Und dann sah er das Geld an. Seine Augen wurden groß, er blickte mir für einen Moment mit offenem Mund in die Augen. Da sagte ich ihm, daß ich ihm das wirklich schenke, wünschte ihm eine schöne Weihnachtszeit und einen guten Jahresanfang und drehte mich um zur Straßenbahn. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß er das Geld schnell einsteckte. Das wären nicht nur drei Wochen, stotterte er, das wären – und verstummte. Hinter mir hörte ich ihn „Oh Du fröhliche” auf der Bratsche spielen. Ich glaube heute noch, wäre ich in meinem Arbeitszeug zu ihm gegangen, hätte er mich vielleicht sogar erkannt. Und ich hoffe, ich habe damit wenigstens einem Menschen eine schöne Weihnacht beschert.
Vielleicht haben es einige bemerkt. Diese Geschichte wurde schon einmal erzählt. Und zwar vom Geig Bratscher, im 18. Türchen 2020, unter dem Titel „Von feinen Pinkeln, Bratschen und der Müllabfuhr”.
Ich schleiche mich davon und wünsche eine schöne Adventszeit.
Wer eine Gelegenheit sucht, zur Weihnachtszeit anderen zu helfen, der kann das im Dezember täglich ab 21 Uhr des Vorabends bei der Versteigerung von #hand2hand21 tun. Die Aktion ist eine gute Idee von Meg, ihr und allen Mitwirkenden danke ich dafür.
P.S.: Positiv waren am 15.11.2021 ein endlich zur Post gegebenes Paket, die andere Sicht, die anhaltende Verwunderung.
Die Tageskarte für heute ist die Neun der Münzen.
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(Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).