2021,326: Wieder 'n Zitat

Textstelle römisch Eins: Denkprozeß, fortgesetzter.

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Da liegen drei Bücher am Schreibplatz herum. Drei, in die ich mich in den letzten Tagen vorm Besuch bei meiner Mutter vertieft hatte. Doch auch jetzt, wieder zuhause angekommen, kann ich in ihnen noch nicht richtig weiterlesen. Denn: In allen drei Büchern habe ich direkt beim eingelegten Lesezeichen Textstellen gefunden, die mit bunten Klebchen markiert sind, die ich wieder und wieder lese und an denen sich mein Denkicht gerade abarbeitet. Und alle drei sind keine Fachbücher, zwei sind sogar ausgesprochen belletristische Werke, die andere der Trivialliteratur zuordnen könnten. Oh doch, ich habe es versucht, einfach weiterzulesen. Aber das funktioniert nicht, weil ich diese Textstellen noch nicht einfach überlesen, hinter mir lassen kann. Obwohl: Vielleicht ging es in dem einen Buch heute nachmittag schon ein kleines Stückchen weiter, las ich fünf oder sechs weitere der Briefe aus Schulzenhof von Eva Strittmatter geschrieben an nicht genannte Empfänger, über die ich mir auch Gedanken mache. Aber die eine der Textstellen in einem der Briefe, eine der markierten nämlich paßt – für mich und irgendwie – zu meinen ereignislosen Tagen von gestern:

 

 

Schwer, sich schwerelos zu machen und all den täglichen Kram abzuschütteln, zu wissen, was wirklich wichtig ist, zu sehn, was zehn Schritte weg von einem vorgeht. Wie es Frühling wird. Wie der Sommer kommt. Sich gegen die Zeit stemmen, daß nicht alles ungelebt vorbeigeht. Etwas zu machen, das etwas festhält.

Eva Strittmatter: Briefe aus Schulzenhof. S. 119
2. Auflage 1979, © 1977 Aufbau-Verlag Verlag Berlin und Weimar
Lizenz-Nr. 301. 120/51/79 · Bestellnr. 611 938 1

 

 

„… den täglichen Kram abzuschütteln, [ … ] Sich gegen die Zeit zu stemmen, daß nicht alles ungelebt vorbeigeht.” Kann sein, daß es gerade das ist, was ich mit „ereignislos” ausdrücken wollte: daß ich nichts von dem wahrnehme, was den Alltag bestimmt, bedrückt, was „normal” ist und sozusagen automatisiert geschieht. Dann nämlich (in einer ganz bestimmten Art von Langeweile) kann auch ich sehen, „was wirklich wichtig ist”. Und dann finde ich die Möglichkeit, „Etwas zu machen, das etwas festhält.” Das sind nicht nur meine zusammen­ge­stümperten oder am Stück heruntergeschriebenen Texte, da wären auch Photographien zu bearbeiten, da finden sich immer wieder Stricheleien in der Immerdabeikladde oder in der Stricheleikladde (die mittlerweile knapp zur Hälfte gefüllt ist), da liegen dann doch Zettel, auf denen Dinge stehen, die „Wenn Zeit und Lust sind dazu und die Möglichkeit besteht” erledigt sein wollen und dürfen, zwei sich reimende Zeilen, Wortgruppen und Satzfetzen, die fortgesetzt werden wollen. Und aus denen werden über den einen oder ande­ren Umweg Erinnerungen.

Schwerelos. Befreit von der Schwere des Alltags, der von vielen als grau bezeichnet oder wahrgenommen wird. Dieses Schwerelos lese ich in eben jenem Brief von Eva Strittmatter. Dieses Schwerelos hilft mir, das ich – vielleicht nicht wirklich erkenn- und verstehbar – gestern „Ereignislos” nannte, Dinge festzuhalten. Zuerst im Gedächtnis, dann in der Erinnerung, und manchmal als Worte auf Papier oder als Bild. Und ob ihr es mir glaubt oder nicht: Ich sann noch nie (gut, äußerst, wirklich äußerst selten) darüber nach und habe vor, nicht mehr darüber nachzusinnen, für wen ich – außer natürlich für mich selbst – ich etwas festhielt, festhalte oder festhalten werde. Und auch dieses Veröffentlichen hier im Blog geschieht zuerst nur für mich. Ja, damit gehe ich, so könnte darüber gesagt werden, einer – meiner! – Verantwortung aus dem Wege. Wirklich?

Ach sieh an: Plötzlich habe ich ein neues Thema, über das ich mir in den kom­menden Tagen ganz sicher meine Gedanken machen werde. Die Verantwortung dafür, daß Etwas festgehalten wird. Hat die jeder Mensch? Haben die nur Menschen, die sich dazu berufen fühlen? Haben die nur Menschen, die damit beauftragt wurden durch Politik, Gesellschaft, Interessengruppen usw. usf.? Ich geh' mal dazu über, mich wieder „schwerelos zu machen” und im Strom der sich nicht ereignenden, also von mir nicht wahrgenommenen Ereignisse mit der vielleicht bestehenden Verantwortung beschäftigt zu sein.

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

 

P.S.: Am 21.11.2021 waren positiv das Weiterlesen, erledigte Haushaltsdinge, die alleinen Wege draußen.
 
Die Tageskarte für morgen ist die Sechs der Münzen (Ausgleich zwischen Nehmen und Geben oder größeres Opfer).

© 2021 – Der Emil. Eigener Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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7 Antworten zu 2021,326: Wieder 'n Zitat

  1. Sofasophia sagt:

    »Die Verantwortung dafür, daß Etwas festgehalten wird.«

    Da nicke ich zuerst, und gleich steigt ein Ja-aber in mir auf. Und die Frage nach dem Für-wen und dem Wozu. Ich persönlich mache mir da nichts mehr vor: Mein Geschreibsel hat nur für mich Bedeutung. Aber vielleicht reicht das ja, was die Verantwortung für das Festhalten betrifft. Vermutlich können wir eines Tages nur loslassen, was wir mal gehabt haben, festgehalten haben. Zum Loslassen über Festhalten … ob das ein Umweg ist oder der Weg der Natur (siehe Bäume > Früchte/Laub).

    Vielleicht wären wir ohne solches Denken und Fühlen tatsächlich ganz und gar bedeutungslos selbst für uns? Vermutlich lässt sich das aber nicht verallgemeinern, und das Maß an Glücklichkeit lässt sich wohl so auch nicht herleiten.

    Danke für die Inspirationen …

    • Der Emil sagt:

      Ja, festhalten für mich (und auch bloggen für mich). Wie sehr ich das früher vernachlässigt habe, merke ich grad an den Bildern aus meiner Kindheit: Die Bilder sind da, aber die meisten Informationen dazu fehlen bzw. sind noch nicht wieder aufgefunden worden in meinem Gedächtnis.

      Und Du benennst eine meiner Ängste: die der Bedeutungslosigkeit von mir für mich. Wenn mir egal ist, was ich tu und wie und wer ich bin, bin ich dann überhaupt noch?

  2. Sofasophia sagt:

    Bin ich überhaupt noch?

    Das muss ich jetzt mal kauen. Also: Was macht, dass ich bin? Wenn ich etwas zu erzählen habe, mir oder anderen, wenn ich mich erinnern kann, wenn ich hoffen kann, wenn ich … Wie viele Bedingungen fürs Sein brauchen wir, um uns das Sein erlauben zu können?

    • Der Emil sagt:

      Ja, so ähnlich sieht es in mir drin auch aus: Was macht (für mich/für andere), daß ich bin, daß ich Ich bin.

      Ein Mysterium, das mich zur Zeit sehr beschäftigt (auch weil ich mich mit der Frage befasse, was dafür sorgt, daß ein Protagonist ist – da kommt noch eine ganz andere Ebene hinzu).

  3. Pingback: Warum überhaupt? – Sofasophien

  4. Helmut sagt:

    Wunderbare Gedanken – wenn sie einen denn beschäftigen (mich gerade nicht – sie sind mir zu viele). Aber später vielleicht?

    Liebe Grüße
    Helmut

    • Der Emil sagt:

      Manchmal — aber wirklich nur manchmal — wünsch ich mir, daß auch die Gedanken einmal schweigen könnten. Es gelingt mir nur selten. Und wenn es zuviel wird, dann schreib ich es raus.

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