2021,262: Coram Publico

Was ich mir erlaube und mir zutraue.

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Coram Publico.

Ja, genau: »In aller Öffentlichkeit.« Vielleicht auch: vor (großem) Publikum. So saß ich wieder zwei Tage auf einem Markt in und vor einem Zelt. Und ich schrieb alte deutsche Handschrift. Übte mich in dem, was ein Scriptor im Mittelalter wirklich tat: Schriften Strich für Strich abmalen, denn Lesen sollten die Abschreiber niht können. Sie hätten aus den zum Teil verbotenen Büchern Wissen gewinnen können. Gefährliches Wissen. Also saß ich am Tisch und zeichnete mit Tinte und Stahlfeder etwas aus dem EKG ab, das als »DER KLEINE KATECHISMUS des Dr. Martin Luther« bekannt ist. Halt, stimmt nicht ganz, sondern nur dessen erstes Hauptstück, die Zehn Gebote. Das, so kann ich nun aus mehrfacher eigener Erfahrung sagen, ist keine leichte Arbeit. Fraktur-Druck buchstabenweise abzuzeichnen, mit allen Verzierungen, Initialien (besonders verzierte Großbuchstaben am Absatzbeginn, die oft über drei oder mehr Zeilen hoch sind) und Schnörkelhaken usw. usf. Alleine die Fähigkeit, auf dem Pergament oder dem Papier ohne Lineatur eine gerade Zeile zu schreiben! Nein, Spaß macht das Abschreiben nicht. Und doch stellt sich, wenn alles gelingt, nach jeder geraden und fehlerfreien Zeile ein kleiner Moment der Freude, des Triumphes ein.

Natürlich fragten wieder viel zu viele, ob ich da Sütterlin schriebe. Nein, meine Handschrift ähnelt einer Greifswalder Kurrentschrift (und nicht wirklich der Greifswalder Deutsche Schrift von Peter Wiegel). Also: Es ist eine Handschrift, und keine Handschrift gleicht exakt einer anderen Handschrift. Da ich sie seit über zwanzig Jahren fast ausschließlich schreibe, ist sie sehr individualisiert, ausgeschrieben, wie man so sagt. Aber jede Handschift ist irgendwie lesbar, nach ein paar Zeilen oder Seiten sogar oft leicht lesbar. Wer sich nur ein wenig Mühe gibt, kann also meine Schrift recht schnell und flüssig lesen.

Mich hinzusetzen und Leute einzuladen, mir einfach beim Tagebuchschreiben zuzusehen: Oh nein, das hätte ich nie von mir vermutet, das hätte ich mir früher nie zugetraut. So in aller Öffentlichkeit die geheimsten Gedanken niederzuschreiben, die abwegigsten Phantasien zu notieren, das ist schon etwas sehr Unvorstellbares. Und dann kommt plötzlich auch noch jemand aus dem Publikum und fragt, ob ich auch diesen alten Brief »übersetzen« könnte. Und mir wird ein Smartphone in die Hand gedrückt mit einem Foto des Papiers. Würdet ihr euer Telefon mit geöffneter Fotogalerie an einen Wildfremden einfach so weitergeben? — Diesen einen Text zu lesen, brauchte weniger als fünf Minuten. Ich bekomme das Bild nochmal per eMail zugeschickt, um den Text zu übertragen und lesbar zurückzuschicken. Man wollte mir nicht glauben, daß nur mein Klingelkörbchen … Ihr könnt es euch ja vorstellen.

Natürlich gibt es viele, sehr viele Stadt- und Kreis- und sonstige Archive, die händeringend nach Menschen suchen, die alte Handschrift lesen und also transkribieren können. Aber noch heute weiß ich nicht, warum die nur Menschen einstellen dürfen, die ein Germanistikstudium oder eines der Literaturwissenschaft erfolgreich abgeschlossen haben. Beides hat mit alter Handschrift nur sehr wenig zu tum. Ich traue mir jedenfalls zu, alte deutsche Handschrift auch mal schnell coram publico korrekt vorzulesen/zu übertragen.

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

 

P.S.: Am 19.09.2021 waren positiv viele Begegnungen, gelesene alte Texte, der trockene Abbau samt Heimfahrt.
 
Die Tageskarte für morgen ist XVIII – Der Mond (Ängste fallenlassen und Sehnsüchten erlauben, den Weg ins Dunkle zu erleuchten).

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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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4 Antworten zu 2021,262: Coram Publico

  1. Gudrun sagt:

    Doch, doch, die Germanisten beschäftigen sich schon mit alten Schriften, schreiben, lesen, übersetzen. Große Zeiträume betrifft es und recht verschiedene Regionen. Das alles gab es in Leipzig in Seminaren. Ich habe mich vor einiger Zeit nur in die Vorlesungen getraut, in die Seminare nicht.
    Kuck mal beim Seniorenstudim. Vielleicht findest du etwas Interessantes irgendwo. Leider gibt es nicht das volle Programm.

    • Gudrun sagt:

      Nachtrag: Bleib dran, Emil. Du kannst so viel.

    • Der Emil sagt:

      Natürlich tun das auch studierte Germanisten. Aber warum dürfen nur die in einem Stadtarchiv (z.B.) eingestellt werden? Das verstehe ich nicht.

      • Gudrun sagt:

        Ich finde das nicht gut, dass man für wirklich alles einen „Zettel“ braucht. Meine jüngste Tochter hat den, will aber da gar nicht hin. Man sollte wirklich schauen, wer für was geeignet ist und den dann auch zeigen lassen. Ich drück dir ganz fest die Daumen, dass du noch das findest, was du suchst.

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