2021,254: Geschichte

An diesem Tag viel zu eingeschränkt betrachtet.

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Ganz private Erinnerungen und Meinungen in Anbetracht eines Datums:

Am 11. September 1989 öffnete die Volksrepublik Ungarn ihre Grenze zur Republik Österreich auch für DDR-Bürger, die in Länder des NSW ausreisen wollten. Als ich davon hörte, war mir unklar, ob das ein freudiges Ereignis sein kann, oder ob es zu fatalen Folgen für meine Heimat kommen würde. (Im Nachhinein: Beides war richtig.) Ja, ich verstand Menschen, die »raus« wollten. Aber ich fand es ehrlicher und konsequenter, im Lande zu bleiben und an einer möglichen Umgestaltung mitzuwirken. An einer Scheibe des Trabis hing später die Losung »Bleibet im Lande und wehret euch täglich!«

Es gab großartige Ideen, die von den Menschen entwickelt und teilweise auch umgesetzt wurden. Manches war nicht sofort möglich, manches nicht so konsequent, wie es hätte sein müssen. Aber da war – neben der Resignation – auch eine wachsende Aufbruchstimmung zu spüren, ein wirklicher Einsatz der Menschen, den Willen des Volkes durchzusetzen. Es gab später sogar vom Runden Tisch den Entwurf einer Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik – vom Runden Tisch, vom Volk also, und nicht von der herrschenden Partei der Arbeiterklasse! Und so schwankte meine Beurteilung der Ausreisenden von Tag zu Tag, manchmal von Stunde zu Stunde. Was ich zu keiner Zeit verstand, war die Bergündung dieses Willens durch die volleren, bunteren Läden und die – mit genügend Geld! – möglichen Reisen nach überallhin. Meine Westverwandtschaft gehörte nicht zum gehobenen Mittelstand, sie waren Zeit ihres Lebens Arbeiter. Der normale Einkauf fand beim Discounter statt und umfaßte sehr häufig nur die preisgesenkten Sonderangebote. Mir war durchaus klar, daß die Fassade bunt und der Alltag auch eher trist waren.

Dann blieben die ersten Nachbarn weg. Niemand wußte, ob sie »abgehauen« waren oder nicht. Ich erinnere mich daran, daß bei einer Familie wochenlang das Licht in der Küche brannte, Tag und Nacht. Ungewißheit, die nur schwer auszuhalten war.

Für mich war und ist dieser 11. September 1989 das erste erinnerte Datum, wenn vom 11. September gesprochen wird. Danach kommt der Putsch gegen Salvador Allende am 11. September 1973, weil das in der Schule und bei den Jungpionieren ein häufig behandeltes Thema war (wie z. B. auch Angela Davis). Und erst danach, weit danach das, was heute als »Nine Eleven« bezeichnet wird. Obwohl das nach dem Untergang meiner Heimat die meisten und heftigsten negativen Auswirkungen auf mein Leben, meine Freiheit hatte und noch immer hat. Oder gerade deshalb …

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

 

P.S.: Am 11.09.2021 waren positiv halb Zehn aus dem Bett gekommen zu sein, erledigte Hausarbeit, selbstgekochter Gemüseeintopf.
 
Die Tageskarte für morgen ist XVII – Der Stern (Zeit, meinen jetzigen Gefühlen freien Lauf zu lassen).

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Über Der Emil

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4 Antworten zu 2021,254: Geschichte

  1. Gudrun sagt:

    Ach, Emil.
    Ich war noch ganz jung, saß mit meinem Vater Radio und hörte Allendes letzte Rede. Mein Vater nahm mich in den Arm und versuchte mich zu trösten, denn ich weinte hemmungslos. Manchmal wünsche ich mir, mein Vater wäre noch da. Ich hatte mal so viel Hoffnung.

  2. Regine sagt:

    Gibt es denn heute gar keine Heimat mehr für Dich?

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