2021,080: Kerze

Beim Betrachten der Vergangenheit ein Lied wiederentdeckt.

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Die eigene Biografie einmal festschreiben, den eigenen Lebenslauf nicht-tabellarisch mit Schwerpunkt Lebensverlauf und nicht Arbeitsplatzkompatibilität verfassen. Diesmal unter Nutzung aller noch vorhandenen Unterlagen und Scans. Vor 33 Jahren um diese Zeit endete mein Dasein als Student. Nicht mit bestandener Prüfung und Diplom, sondern nach fünf Semestern Physikstudium mit einer Exmatrikulation. Und die hatte ich auch noch selbst beantragt, nachdem ich zum 31. Dezember des Vorjahres aus der SED ausgetreten war (ja, das war möglich, aber noch nicht empfehlenswert). [Damit kam ich der Exmatrikulation nach mehreren nicht bestandenen Prüfungen zuvor; und vielleicht hätte ich drei Jahre später wieder einsteigen sollen in das Studium. Ich tat es nicht, aus verschiedenen Gründen. Und dann, als ich es doch in Erwägung zog, war die Zeit vorüber, in der mir meine »alten« Studienergebnisse und -zeiten noch hätten ange­rech­net werden können.] Irgendwann im Herbst, wahrscheinlich kurz vorm Beginn der Vorweih­nachtszeit dieses Jahres 1988 (und insoweit muß ich meinen Tweet vom März 2020 korrigieren) aber stand mit Einbruch der Dunkelheit eine brennende Kerze am Fenster der Dienstwohnung. Das war damals ein stiller Protest gegen die Verhältnisse, die und wie sie sich in der DDR entwickelten. An diesen Kerzen erkannten sich Menschen, auch auf dem Dorf. Jedoch hatte ich nie ein weißes Band an der Antenne oder einem anderen Teil des Autos, weil ich nie einen Ausreiseantrag gestellt hatte.

 

 
Gerhard Schöne: Das weiße Band
 

An manchen Autos weht heute ein schlohweißes Band.
Das ist das Zeichen der Leute, die nichts hält mehr im Land.
Die uns signalisieren, daß sie kapitulieren,
Daß sie es nun aufgeben hier noch weiter zu leben.
Trotzig flattert die Binde, wie ein Vorwurf im Winde.
Ich schwöre mir heimlich und leis': Nie hisse ich weiß.

 

 

Ich hab die erste Strophe des Liedes mal Über dem Video dazugeschrieben, weil das, genau das der Grund war. Ich hatte später den Zettel in der Heckscheibe hängen mit: Bleibet im Lande und wehret euch täglich!

Die Kerze im Fenster. Aus ihr wurden später Kerzen auf den Straßen, in Eingängen, auf Treppen und Mauern. Einfache, weiße Kerzen. Die Oberen der DDR sagten später (oder: einer von den Oberen), daß die Organe auf alles vorbereitet waren – aber nicht auf Kerzen, Kerzen und Lieder, Kerzen, Gebete und Lieder. Die brennende Kerze im Fenster sollte vor gar nicht allzulanger Zeit wieder als Symbol hergenommen werden, diesmal als »Erinnerungshilfe« an die (Oh, wie mich diser unsinnige Sprachgebrauch ankotzt!) »mit oder an Corona« Verstorbenen: Selbst das, dieser Sprachgebrauch, ist eingeführt, um eine unzufriedene, bildungsresistente, merkbefreite Minderheit ja nicht weiter aufzuregen. Die Kerze im Fenster. Abend für Abend. Damals bis bis zur Währungsunion. Viele dachten, daß die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik mit dem Westgeld und den Westwaren viel besser funktionieren würde, ließen sich vom Konsumrausch einlullen und überhörten daher die mahnenden Stimmen. Und da merke ich, was 1989 (!) auch noch anders war als es heute ist: Das Volk, und zwar dessen große Mehrheit, sprach klar und deutlich. (Bis die Westpolitiker kamen mit viel zu großen Versprechungen und Verheißungen und aus »Wir sind das Volk!« dann das lasche »Wir sind ein Volk.« machten/machen ließen.)

1989 war die Zeit, in der die (alte) Regierung der DDR keinen blassen Schimmer davon hatte, wie das Volk wirklich denkt. Weil diese Informationen auf dem Weg nach oben oft genug aufgehalten und umgearbeitet wurden. Heute ist die Zeit, in der die Regierung keinen blassen Schimmer davon hat, wie die Menschen im Lande wirklich denken. Weil sie nur noch auf das Geplärre hört und alles andere in ihrer Abgehobenheit ignoriert. Wandlitz? Wandlitz war wesentlich näher an den Menschen als Abgeordnete und Politiker mit etlichen exorbitanten Nebeneinkünften …

 

Die hier aus meiner Erinnerung wiedergegebenen Erkennungszeichen können regional unterschiedlich gewesen und gedeutet worden sein. Im Erzgebirge erkannten sich meines Wissens und meiner Erinnerung nach an der Kerze im Fenster diejenigen, die eine andere DDR wünschten.

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke fürs Lesen.

Der Emil

 

P.S.: Am 21.03.2021 waren positiv handgemahlener und -gebrühter Kaffee, nichts notwendig Geplantes, Schupfnudeln.
 
Die Tageskarte für morgen ist XVI – Der Turm.

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Über Der Emil

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7 Antworten zu 2021,080: Kerze

  1. Nati sagt:

    Danke für deine geschichtsträchtige Information Emil.
    War es mir, bis gerade eben, unbekannt mit der weißen Kerze im Fenster.
    Ich mag solche Geschichten/Erinnerungen aus alten Zeiten.

  2. Stefan Kraus sagt:

    Ich weiß nicht, ob du dich an meinen Beitrag „Großvater“ im März 2015 in meinem damaligen Blog erinnerst:

    „Dieses Jahre wäre mein Großvater 134 Jahre alt geworden. Die Erzählungen über ihn kannte ich schon länger, aber erst vor wenigen Jahren sah ich zum ersten mal die zu diesen Geschichten und zu diesem Menschen gehörenden amtlichen Dokumente, angefangen vom Taufschein seiner Großeltern aus dem Jahre 1804…

    Im ersten Weltkrieg als Regimentsschreiber reich dekoriert, wurde er ein aufrechter preußischer Beamter. Im „Dritten Reich“ hatte er sich öffentlich gegen Hitler und die NSDAP geäußert, wurde verhaftet und kam in ein Konzentrationslager. Der Aussage des Landrates in den Papieren konnte ich entnehmen, dass er anlässlich einer Amnestie zu Hitlers fünfzigstem Geburtstag wieder frei kam. Doch von den gesundheitlichen Folgen der Inhaftierung erholte er sich zeit seines Lebens nicht mehr. Dennoch hielt er auch in der jungen DDR wieder nicht seinen Mund, und musste nach dem Verrat durch einen seiner eigenen Söhne erneut mit seiner Familie in einer Nacht- und Nebelaktion in den Westen fliehen.

    Wie gerne hätte ich ihn kennengelernt, seinen Geschichten zugehört, vom Leben vor dem ersten Weltkrieg, seiner Zeit als von den Alliierten eingesetzter Bürgermeister, von der Vertreibung aus Schlesien und der großen Flucht, von der Hungersnot, von der Armut, weil die BRD ihm keinen Pensionsanspruch zugestehen wollte, … Doch er starb einige Jahre vor meiner Geburt. (…)“

    Er ist geflohen, du bist geblieben. Beides war in der jeweiligen Situation richtig. Ich nahm von ihm etwas mit, ich nehme von dir etwas mit. Emil, solche Geschichten zu erzählen ist wichtig. Ich danke dir dafür.

  3. Hallo Emil, hier hat ja jemand was gelesen, was sie selbst miterlebt hat. Ich kann mich noch an die Bänder an den Autoantennen erinnern Punkt aber auch wir wollten nicht gehen, sondern lieber bei uns was verändern. An die Kerzen Aktion kann ich mich nicht erinnern.

  4. momfilou sagt:

    Hallo Emil,
    bei uns in Merseburg haben wir mit den weißen Kerzen eine Kette auf einer langen Straße gebildet. Da die weißen Kerzen bald ausverkauft worden sind, standen dann auch Leute mit roten, gelben oder grünen mit am Straßenrand. Alle schweigend, denn niemand wusste, wer da in der Nähe lange Ohren machte.
    Montags trafen alle in der Marienkirche ein zum Montagsgebet, wo man Lehrer-Kollegen traf, von denen man es nicht erwartet hatte, besonders viele junge! Auch die Kinder von SED-Kadern.
    Ich erinnere mich oft an alles: „Wir bleiben hier!“ war unsere Parole. Ich bin erst 1990 fort, als ich keine Arbeit mehr hatte und das erste Mal Sozialhilfe bekommen hatte. Da hat die Frau auf dem Amt zu mir gesagt, dass sie mich wohl noch öfter sehen werde. Aber ich wollte das nicht, lieber habe ich im Westen gekocht in einer Gaststätte bei einem Bekannten. Mit dem bin ich immer noch verheiratet, aber das ist eine andere Geschichte…
    Wir sollten des öfteren erzählen, wie es damals war. Was da oft geschrieben wird, ist soooooooo falsch, dass man sich übergeben müsste!
    Aber andere Menschen, andere Augen und Ohren – ich will kein Urteil fällen.
    Danke und lass dich grüßen
    Gerel

    • Der Emil sagt:

      Die Lichterketten waren dann später, soweit ich mich erinnere.

      In der Stadt, neben der ich damals lebte, saßen und standen irgendwann auch SED-Mitgleider mit in den Kirchen. Als Schulhausmeister und -heizer „wußte“ ich natürlich, wer von den Lehrern nie hingehen wird – und ich hatte Recht.

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