Jahrelange Wege übern Berg.
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Meinen 11. Adventskalender hier widme ich allen, die kämpfen, allen, die krank sind, allen, die Unterstützung benötigen. Ich wünsche allen Menschen (und mir) eine im wahrsten Sinne des Wortes wundervolle Weihnachtszeit. Meine Kerzen brennen für Menschen, die Hoffnung brauchen.
Gleich drei Dinge auf einmal: Nikolaus, sechstes Türchen und Zweiter Advent! Deshalb:
Die andere Nikolausgeschichte.
Nicht mehr lange, und es wird dunkel werden. Oh, hallo, und ach, ja, warum nicht? Wenn Sie sowieso den gleichen Weg haben, dann begleiten Sie mich doch. Bis zu mir nach Hause brauche ich bestimmt noch zwanzig bis dreißig Minuten. Aber der Himmel ist klar, die Luft ist kalt und der Mond da oben fast voll. Die weiten Wege sind der Preis für die Stille, die ich im abgelegenen alten Bahnwärterhaus habe. Ich könnte sogar noch froh darüber sein, daß es heuer noch nicht geschneit hat. Und was auch sonst los ist an diesem Tag: Seit 14 Jahren gehe ich an diesem Tag genau diesen Weg. Immer an diesem Tag. Immer diesen Weg. Von meinem winzigen Bahnwärterhaus an der schon längst stillgelegten Stichstrecke über den Berg ins Nachbardorf. Und auch wieder zurück. Eigentlich müßte ich ja in der Nacht zuvor hingehen. Aber im Dunkeln habe ich mich noch nie getraut, die Stunde durch den Wald zu marschieren. Also gehe ich am Nikolaustag immer zum Nachmittag. Zum Haus der Ex-Schwiegereltern. Dahin, wo meine Ex-Frau mit meinem Sohn lebt. Seit vierzehn Jahren ohne mich lebt. Ach, keine Sorge, der Junge kennt mich, ich besuche ihn ein- oder zweimal jede Woche. Ich bin dann von früh kurz nach dem Aufstehen bis zu Schlafenszeit bei ihm. Ja, seit vierzehn Jahren. An den Tagen unternehmen wir auch immer was, lange Spaziergänge, manchmal gehen wir in die Bäderwelt oder essen einfach nur irgendwo ein Eis. Und seit 14 Jahren fülle ich ihm seinen Nikolausstiefel. Der mal mein Stiefel war, mein Winterstiefel bei der NVA, lange vor seiner Geburt. Ja, noch immer gibt es Schokolade, Marzipan – das liebte er schon als Anderthalbjähriger – und Nüsse und Pfefferkuchen. Und immer muß eine Mandarinde dabeisein. Ich kann mich sehr gut erinnern an das, was mir seine Mutter in dem Jahr erzählte, als ich die Mandarine vergaß. Ich bin seit 14 Jahren der Nikolaus für meinen Sohn. Eigentlich schon seit 23 Jahren, denn er ist jetzt 23. Ich hatte nach neun Jahren plötzlich nicht mehr die Kraft, ihn rund um die Uhr zu betreuen. Ihn zu wickeln, zu füttern, seinen Rollstuhl zu schieben. Und gleich gar keine Kraft hatte ich mehr für meine Frau, die noch heute in ihrem Beruf arbeitet. Wie damals, immernoch im selben Krankenhaus. Ich war zuhause und kümmerte mich um das Kind und den Haushalt. Und bald kam jeden Tag ein Pflegedienst, mehrfach täglich. Und verschiedene Therapeuten, Physiotherapeuten, Sprachtherapeuten. Sonderpädagogen. Nein, in eine Schule gehen konnte und kann der Junge nicht. Und ich, ich bin daran gescheitert. Hatte zuwenig Kraft für einen blinden, entwicklungsverzögerten, also einen mehrfach behinderten Sohn im Rollstuhl. Noch heute habe ich Angst, daß er an einem seiner Tage mit mir krampft und das Atmen vergißt. Als das vor neun Jahren passierte, ging ich zu Boden und war nicht mehr in der Lage zu handeln.
Schluß mit den ollen Kamellen. Lange her. Heute hab ich ihm wieder den Stiefel gefüllt. Ja, seine Mutter stellt ihn immer auf die Terrasse. Und auch eine Kassette mit Weihnachtsmusik hab ich dazugelegt. Er freut sich über Musik und liebt die Adventszeit. Dann nimmt er seinen Walkman und hört seine Musik, sehr, sehr leise. Hat mir meine Ex-Frau erzählt. Sehr leise. Psssst! Seinen Sie mal still, halten Sie den Atem an! Da, hören Sie? Dieses fast unhörbare Zwitschern, dieses Perlende, diese zarten Töne! Hören Sie die? Ja, dieses Schwätzeln. Da, ja, und dort sitzt die Amsel. Jaja, der Vogel dort macht diese Töne. Seltsam, daß ich seit vierzehn Jahren immer an derselben Stelle diesen Amselgesang höre, nicht wahr? Jedes Jahr, immer hier. Am Nikolaustag. Seit vierzehn Jahren. Oh, jetzt ist mir Zigarettenasche ins Auge … Verzeihen Sie, ich weiß ja, daß St. Nikolaus nicht weint …
Moment mal, wo sind Sie denn jetzt? Hallo? Wohin sind Sie denn? … Hab ich Sie mir nur eingebildet? Aber die Amsel, die schwätzelt doch noch.
Ich schleiche mich davon und wünsche eine schöne Adventszeit.
Wer eine Gelegenheit sucht, zur Weihnachtszeit anderen zu helfen, der kann das im Dezember täglich ab 21 Uhr des Vorabends bei der Versteigerung von #hand2hand20 tun. Die Aktion ist eine gute Idee von Meg, ihr und allen Mitwirkenden danke ich dafür.
P.S.: Positiv waren am 05.12.2020 der Aufstieg auf den enttäuschenden Nurfürgeübtehügel, die Entscheidung für eine Absage, drei mir »nachgelaufene« Zuckerrüben.
Die Tageskarte für heute ist die Vier der Kelche.
© 2020 – Der Emil. Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
(Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).
Das geht mir sehr zu Herzen.
Es ist „Nichterlebt“ – jedenfalls nicht von mir erlebt und auch nicht so erlebt. Aber es könnte so (gewesen) sein, auch wenn ich mehrere Erzählungen verwoben hab.
Natürlich kann das so gewesen sein. Oder anders, oder so, wie bei uns oder wie bei Emir oder der Gehörlosen Sonja. Aber auch bei jedem anderen Kind.
Ja, Piri. Es besteht immer die Möglichkeit. Viele Möglichkeiten – aber: Sind wir immer frei zu entscheiden, welche wir wahrwerden lassen?
Hast du meinen Kommentar als Kritik angesehen? Das tut mir leid, das wollte ich nicht. Nur anmerken! Aber inpuncto Behinderung bin ich vielleicht ein bisschen sehr empfindlich.
Nein nein, nicht ein klitzekleines bißchen.
(Vielleicht war das wieder einer meiner untauglichen Versuche, mich und Meines zu erklären, den Protagonisten vielleicht vorauseilend zu entschuldigen. Ich weiß, daß das nicht gut ist und tappe doch immer wieder in diese Falle.)
Danke Emil für diese, deine, schöne Nikolausgeschichte.
Hab einen schönen Nikolaus Tag.