Nº 189 (2019): Beeindruckende Frau

Im winzigen Dorf in der DDR, Bezirk Schwerin, Kreis Güstrow, im letzten Haus vor den Schwanten.

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Ein paar Erinnerungsfetzen nur:

Erna. So hieß die Großmutter, die Oma. Auf ihrem Neubauerngut war sie diejenige, die alles regelte, die die Hosen anhatte. Und sie war gerecht. Wir Enkel hatten unsere Probleme mit ihrer harten Aussprache in Pommernplatt, selbst bei ihren Versuchen, einigermaßen Hochdeutsch zu sprechen. Und laut konnte sie werden, so laut, daß wir sie an allen Stellen des fast zwei Fußballfelder großen Grundstückes gut hören konnten. Ich sehe ihr immer faltiges Gesicht mit dem harten Zug um den Mund – in welchem der beiden Kriege sie so wurde, weiß ich nicht. Von den neun von ihr geborenen Kindern kenne, besser: kannte ich nur sechs, drei lebten viel zu kurz, und auch von den sechs leben nur noch zwei. Mit faltigen Händen versorgte sie das Vieh, kümmerte sich um den Ziergarten zum Weg hin, beackerte ihren Bauerngarten. Sie brachte uns Enkeln bei, Gemüse und Johannisbeeren, Stachelbeeren und Kirschen zu ernten. Mit ihr schleuderten wir Honig. Ihr Streuselkuchen war immer etwas besonderes, denn sie würzte die Streusel mit einem Hauch Muskat. Von ihr habe ich den Trick mit dem Pflaumenmus im Rotkraut.

Von Erna lernte ich die Bastflechterei: Untersetzer, Körbchen und umflochtene Milch­fla­schen als farbenfrohe Vasen. Auch Stopfen brachte sie mir bei. Bei ihr durfte ich noch vor dem Schulanfang den Propangasherd anmachen und mein auf eine Gabel gespießtes Konsumbrötchen in der Flamme aufbacken. Sie erlaubte mir das Holzhacken, während Opa meinte, daß das zu gefährlich sei. Und am Morgen, denn als Kind war ich noch Früh­aufsteher, am Morgen ging es mit einem Körbchen in den Hühnerstall und zu den Enten, die frischen Eier einzusammeln. Sogar Ziegen und Schafe konnte ich als Kind (stümper­haft) melken. Selten, selten sind die Momente, in denen sie … Liebevoll war sie bei aller Strenge immer, aber es kam nur selten vor, daß sie uns Enkel streichelte. Selten. Doch das abendliche Zudecken, wenn ich ins Kastenbett mit dem Strohsack als Matratze kletterte, das geschah jeden Tag.

Erna, die resolute Frau, die ihren Mann stehen mußte. Die im Alter zwei Köpfe größer war als ihr Mann, mein Großvater, Opa. Oma, die die großen runden Bauernbrote vor der Brust mit einem sehr, sehr scharfen Messer schnitt, die, selbst als dann der Wasserhahn in der Küche angekommen war, noch immer Wasser von der hofeigenen Pumpe holte. Irgendwann nach Opas Tod zog sie in die nahe Stadt, damals konnte ich beim Umzug nicht helfen. Und dann lebte sie nur noch wenige Monate, nachdem sie ihren Hof verlassen mußte. Ich sah sie nicht mehr, und konnte auch nicht zu ihrer Beerdigung. Nie habe ich sie vermißt, immer war Opas Gesicht präsenter in mir. Aber heute, heute mußte ich einige Erinnerungen an sie aufschreiben. Wie sie mir die Jodtinktur auf den Zeh goß, auf den ich mir einen Backstein fallen ließ, zum Beispiel, oder wie ich mit ihrem riesigen 28er Fahrrad erst im Hof und dann auf dem Feldweg und im Dorf herumfuhr mit ihrer Erlaubnis. Ach Großmutter!

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke für’s Lesen.

Der Emil

P.S.: Am 08.07.2019 waren positiv das Ausschlafen, eine Kanne Kaffee zum Frühstück, Vorarlberger Kässpätzle.
 
Die Tageskarte für morgen ist IX – Der Eremit.

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Über Der Emil

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4 Antworten zu Nº 189 (2019): Beeindruckende Frau

  1. Sofasophia sagt:

    Ein feiner Text. (Biografisch nehme ich an, gell?)

  2. fata morgana sagt:

    Ein sehr schöner und zu Herzen gehender Text, liebevoller Erinnerungen…
    Du schreibst, du hast sie nie vermisst, deine Oma und doch klingt in deinen Zeilen viel Wärme und auch Wehmut mit…

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