Nº 154 (2019): Schrecken in der Nacht

Und ohne echtes Happy End.

To get a Google translation use this link.

 

 

Nachts wälzt er sich auf dem Bett hin und her. Nicht zugedeckt kann er nicht schlafen, aber bei dieser Hitze ist zudecken ist auch nicht möglich. Selbst das Leinenlaken, das er von seiner Großmutter geerbt hat – eines der ganz, ganz wenigen Stücke, die ihn an seine Vergangenheit erinnern – ist in solchen Nächten zuviel. Sieben. Und. Zwanzig. Grad.

Er schreckt hoch aus einem Schlaf, der traumlos war. Ein Geräusch. Im Zimmer war ein Geräusch, das nicht ins Zimmer gehört. Leise dreht er sich, so daß er ins Zimmer blicken kann. Es ist viertel Drei. Es ist nie so dunkel, daß er nichts erkennen kann. Doch er sieht nichts Ungewöhn­li­ches, nichts, das nicht in sein Zimmer gehört. Doch dann ist da wieder ein Geräusch, es kommt vom Boden direkt vor dem Bett. So hört es sich jedenfalls an. Vorsichtig beugt er sich nach vorn. Ja, da bewegt sich etwas. Etwas kleines bewegt sich dort, nicht soooo klein, aber kleiner als eine Katze. Was jetzt? Für ein gezieltes Zugreifen ist es zu dunkel, er erkennt ja nichtmal, was da vorm Bett sitzt. Hm. Eine der Kopflampen hat rotes Licht, die liegt immer gleich auf dem Nacht­schränk­chen. Er nimmt sie unter die Decke, schaltet die weißen Stufen durch, dann brennen die roten Dioden. Er läßt sich Zeit, leuchtet erst die Zimmerdecke an, eine ganze Weile, damit sich das Tier hoffentlich an das Licht gewöhnt. Dann leuchtet er direkt nach unten, dahin, wo er die Schemen des verirrten Gastes gesehen hatte.

Ein Vogel. Ein Vogel ist durch das offene Fenster hereingeflogen. Gut, tagsüber drehte auch schonmal eine Taube eine Runde um die Lampe an der Zimmerdecke. Aber nachts? Nun, da unten sitzt ein Vogel. Ziemlich schnell atmend, auch das kann er in dem schwachen roten Licht erkennen. Was für einer? Dazu müßte er jetzt auch noch die Brille aufsetzen. Vorsichtig zieht er die Lampe über seinen Kopf. Das Häufchen Leben vor seinem Bett hat sich nicht bewegt. Wenn er jetzt danach greift, muß der erste Versuch gelingen, sonst erschrickt der Vogel. Und ein erschrockener Vogel fliegt nicht durchs Fenster wieder hinaus, sondern irgendwo dagegen und verletzt sich womöglich schwer. Also vorsichtig die Hände in die Nähe bringen, sehr vorsichtig. Und dann schnell zugreifen. Jetzt! Jetzt! Jetzt spürt er einen Vogel in seinen Händen, der sich vor Angst nur noch weiter geduckt hat. Langsam schiebt er die Finger unter den Vogel, hebt ihn dann auf. Winzig ist das Tier und so leicht, so leicht. Er schaut sich das Vögelchen an, denn mehr ist es nicht als eine Handvoll Vögelchen, das sich nachts in sein Zimmer verflogen hat. Etwas Eulenartiges, vielleicht ein junger Kauz? Gott sei Dank hat der nicht gerufen, denn wer den Kauz nachts rufen hört, muß mit dem Gevatter Tod rechnen. Er hebt den Vogel höher bis auf sein Bett. Es ist nicht leicht aufzustehen, ohne die Hände dabei nutzen zu können. Aber er schafft es, denn er muß es ja schaffen. Als er endlich am offenen Fenster steht, löst er die linke Hand aus der Umhüllung, die seine beiden Hände für den Vogel bildeten. Das Tier setzt er, es noch in der rechten Hand haltend, draußen auf dem Fensterbrett ab, mit der Linken schließt er das Fenster, soweit es schon geht. Erst jetzt löst er langsam und sehr vorsichtig den Griff um den immernoch sehr schnell atmenden Vogel mit dem großen gelben Schnabel. Jedenfalls glaubt er, daß Gelb im Rotlicht seiner Kopflampe so aussieht wie der Schnabel.

Dann zieht er seinen Arm weg, hinein ins Zimmer und drückt – ebenso sehr langsam und vorsichtig – mit der Linken das Fenster ganz zu. Wie schwer es doch ist, alles außer dem linken Arm stillzuhalten! Aber jetzt sieht er das ganze Tier: ein kleiner eulenartiger Vogel, der wirklich noch in seine eine, seine rechte Hand paßt. Kein Wunder, daß er kaum ein Gewicht spürte. So klein. So winzig klein. Und so leicht. Es bleibt die Hoffnung, daß der Winzling unverletzt ist und bald davonfliegt. Wie lange beobachtet er das Tier schon? Langsam dreht er seinen Kopf, sieht zur Uhr. Kurz vor Vier. Eine reichliche halbe Stunde ist seit dem Aufwachen vergangen. Als er wieder zum Fenster hinaussieht, ist das Fensterbrett leer …

 

 

Ich schleiche mich davon und sage Danke für’s Lesen.

Der Emil

P.S.: Am 03.06.2019 waren positiv hochinteresante Bilder, die mir eine gute Freundin schickte, eine fertiggestellte Sendung, eine schöne Phantasie.
 
Die Tageskarte für morgen ist die Sechs der Kelche.

© 2019 – Der Emil. Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
CC by-nc-nd Website (Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).

Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
Dieser Beitrag wurde unter 2019, Geschriebenes, Miniatur, One Post a Day abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

8 Antworten zu Nº 154 (2019): Schrecken in der Nacht

  1. castorpblog sagt:

    Wieso, happier geht das end doch gar nicht lieber Emil?

  2. castorpblog sagt:

    Die Antwort mein Freund, kennt ganz allein der Wind. Für den Vogel warst du jedenfalls das happy end.

    • Der Emil sagt:

      Der, der da handelte. Das Textlein ist (bis auf den Rundflug der Taube um meine Lampe, das geschah wirklich einmal, und eine meiner Kopflampen) phantasiert.

  3. fata morgana sagt:

    Und wieder sehe ich dich vorsichtig durch das nachtdunkle Zimmer laufen, auch wenn die Geschichte der Phantasie entsprungen ist. In Bildern denken zu können, ist ein Geschenk, ein Segen, immer aufs Neue bin ich dankbar dafür.

  4. fata morgana sagt:

    Die Eule hat es nicht gestört…und ganz sicher ist sie geflogen !

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert