Unspektakulär. Nº 235 (2016).

Ultreïa! Tag 14 – Wie mir ein Bahnhof als Folge dazwischenkam auf dem #oekuweg

 

Diesen Weg ging ich am vergangenen Tag. Einmal quer durch das halbe Leipzig; ich ging in Richtung Innenstadt, in Richtung Stadtzentrum, ich ging und ging und ging und ging Kilometer um Kilometer. Leipzig schlägt Kamenz 😉

 

Ich war um fünf, um sechs und um sieben wach, stand aber erst kurz nach acht auf. Ich mußte die Treppe hinunter. Ja, auch, um Kaffee zu kochen. Saß dann draußen, sortierte mich und meine Gedanken. War ich doch – so unwirklich mir das immernoch schien – immerhin in Leipzig, im äußersten Osten der Stadt, noch vor dem Paunsdorf-Center.

Ich packe, unten, trage die Dinge einzeln über den Vier-Meter-Abgrund hinunter. Stopfe wie jeden der vergangenen Tage alles in den Rucksack, in dem täglich mehr Platz für meinen Kram ist, weil ich alles jeden Tag ein wenig besser komprimiere. Der Kaffee ist alle; es ist kurz vor zehn, als ich mir eine letzte Zigarette drehe und das Losgehen hinauszögere. Der Wegweiser im Garten: er zeigt die Entfernungen bis Wurzen (daher kam ich), Kleinliebenau (dahin wollte ich) und Santiago de Compostela (das … das ist ein Ort, der aus meiner Vorstellungs-, Planungswelt zunehmend schwindet). Zunächst denke ich über den Ökumenischen Pilgerweg und über den Sächsischen Jakobsweg nach. Bautzen – Hof im Mai nächsten Jahres. Und nach und nach alle deutsche Jakobswege. Das sagt mir eher zu als der Camino Francais o.ä.

Genau zehn Uhr gehe ich los, in Richtung Innenstadt Leipzig, westwärts. Wie tausend Meilen westwärts erscheint mir der Weg entlang der Straßen, der Straßenbahngleise, vorbei an den Haltestellen und Kirchen und Grafitties. Eine Bank zum Ausruhen fand ich, saß dort, wartend darauf, daß die Socken trocknen. Ging dann weiter. Kam zum Bahnhof. Zum Hauptbahnhof Leipzig, der mit dem Bau der U-Bahn an Flair und Charme verloren hat. Der mir immer wieder Schwierigkeiten macht mit seinen sichtbaren Höhenunterschieden zum unterirdischen Bahnsteig für S-Bahnen, der unnötig ist in meinen Augen und dessen Existenz mir nicht einleuchten will …

Vor diesem Bahnhof saß ich und überlegte. Ich holte mir etwas zu essen und einen Kaffee beim Bürgerkönig, saß wider vorm Bahnhof. Schaute in mein Portemonnaie. Stellte fest, daß vor der absoluten Reserve nur noch eine Übernachtung übrig war. Sah sechzehn weitere Gehkilometer vor mir, ohne Einkaufsmöglichkeit; eine weitere einsame Nacht in Kleinliebenau. Saß anderthalb Stunden im und vorm Bahnhof, überlegte hin und her. Wie sehr mich der Ausfall einer Herberge aus meinem Takt bringen konnte. Dachte an meine “Ziele”: 13 Tage gehen, 230 km gehen, bis Merseburg (oder Leipzig). Es war der 14. Tag, ich hatte fast 250 km oder sogar mehr, ich saß in Leipzig vorm Bahnhof. Die nächste S-Bahn führe in ein paar Minuten. Sie fuhr ohne mich.

 

Aber.

 

Doch der Leipziger Hauptbahnhof ist für einen Wiedereinstieg Anfang September wirklich gut geeignet. Dann nämlich werde ich am Freitag morgens nach Leipzig fahren. Und von da aus über Kleinliebenau und Merseburg gehen, vielleicht auch bis Frankleben oder Freyburg an der Unstrut … Dann mit weniger Gepäck, mit dem Vorhaben, wild zu zelten. Aber: weitergehen. Irgendwann in diesem oder im nächsten Jahr bis Vacha gehen. Zu Fuß. Um weiterhin zu ergehen (oder im alten Ausdruck: zu erfahren) und zu erLEBEN, was Entfernung, Weg, Distanz sind, was Zeit von hier nach da bedeutet. Was Menschen am Weg und auf dem Weg und mit dem Weg erleben, wie es ihnen erGEHT, wohin ich GEHE.

Die Entdeckung der Langsamkeit eines Fußweges, der Anblicke und Begegnungen links und rechts des Weges, dessen, was mir mitten auf dem Weg zu Füßen liegt: Das ist es, was mich diese Tage gelehrt haben. Mein Sein hat sich etwas verändert. Denn jetzt kenne ich nicht nur das Zuhause-Sein, sondern auch das Unterwegs-Sein. Ein Sein, das alles bisher Dagewesene sprengte, weitete, weicher machte. Weg. Weg. Diese beiden gleichgeschriebenen Worte, die so unterschiedlich sind: Früher wollte ich weg aus dem Leben, aus meinem Leben (daher entstand Der Emil), heute suche ich einen Weg für mein Leben, für mich, für meine Gedanken, meine Gefühle (von denen ich jahrelang nichts wußte).

 

Und so endete der erste Abschnitt des Ökumenischen Pilgerweges für mich so unspektakulär wie auch der Wanderkarte erster Teil, der “nur” bis Leipzig reichte. Den ich abgegangen, &ldqou;ausgewandert&drquo; habe. Nur vorm Haus, zuhause, die Mitteleingangs-Treppensitzgang, die bergrüßte mich zuhause, wie auch mein Lieblingsbusfahrer mich unverhofft in der Straßenbahn begrüßte. Einer von den Treppenleuten probierte sogar meinen Rucksack und wollte den nicht länger als zehn Minuten tragen. Mit Tasche nämlich trug ich täglich 17,5 kg inclusive zwei Litern Wasser. Sechs Stunden lang. Jeden Tag. Oder gar länger. Täglich. Und mein Leben, das, was ich tagtäglich habe, trug ich auch mit, als Smartphone, als Netbook, als sicherheitshalber mitgenommene Dinge, die ich diesmal nicht benötigte. Aber bald benötigen werde.

 

Plötzlich stand eine S-Bahn vor meiner Nase und jemand/etwas schubste mich und meinen Rucksack hinein. Der #oekuweg ist jetzt nur unterbrochen. Ich gehe ihn stückweise weiter bis nach Vacha. Erstmal wieder an die Wohnung gewöhnen. Und an die Stadt. Leipzig, Hauptbahnhof: ich brauchte 90 Minuten für die Entscheidung, den #oekuweg vorerst zu verlassen. Im September gehe ich wieder ein Stück.

 

Der Emil

Der Verfasser des Blogs pilgert vorerst nicht weiter und dankt für’s Lesen.

P.S.: Die Strecke am 21. August 2016: Dort bei Graphhopper.
 
Es war wirklich nicht leicht. Ein Teil von mir wäre gern weitergegangen. Nur füchtete ich, zu weit zu gehen …

© 2016 – Der Emil. Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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0 Antworten zu Unspektakulär. Nº 235 (2016).

  1. sag Kai sagt:

    Für mich klingt das sehr rund. Danke für’s begleiten lassen auf Deinem Weg. Und zu den 17,5 kg kommen ja noch die Follower dazu 😉

  2. Ulli sagt:

    Dein Weg ist für mich auch ein Lauschen in dich hinein, was stimmig ist, was nicht. Ich lese deinen Weg, wie auch Kai, als rund, stimmig für dich. Du hast viele Schritte getan und jeder war wichtig und alles was dir begegnete und wer gehört zu deiner Geschichte, die ich gerne miterlebte.
    Gutes Ankommen daheim
    liebe Grüsse
    Ulli

  3. wildgans sagt:

    Ein neues Leben nimmt Fahrt auf………….danach klingt es mir doch sehr.

  4. amazonasknallerbse sagt:

    Danke für das Teilnehmen lassen. Du hast mich inspiriert (Darf ich das so sagen?), vielleicht doch irgendwann meinen Traum zu erGEHEN: Einmal von Süd nach Nord entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze.

    Komme gut im zuhause an!

  5. alltagsfreak sagt:

    Das ist eine sehr interessante Lebenserfahrung, auf welche man im Alter stolz zurück blicken kann. Eindrücke hautnah erleben, haushalten,- schauen, ob man die Etappenziele erreicht und mit der „eisernen Reserve“, sowie Kräften auskommt. Und was heißt hier „nur“? Sei zufrieden mit Dir!

  6. Einen guten „Übergang“ in den ‚Alltag‘ wünsche ich dir. Gute Zeit und viel Vorfreude auf die nächste Wegetappe dann wenn die Zeit dafür da ist.

  7. Pingback: Ausgehamstert, Sichtweise und mehr als 140 Zeichen – alltagstauglichkeitstest

  8. Emil ich wünsche dir ein gutes Ankommen im *ALLTAG*.
    Für mich ist das immer ein schwerer Part nach dem pilgern.
    Das ankommen, in der lauten hektischen, von unachtsamen Menschen erfüllten Welt.
    Danke für deine Berichte – hab es gut – bleib gesund!
    M.M.

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