Rast im Knast. Nº 230 (2016).

Ultreïa! Tag 10 – lange Zeit für kurze Strecke #oekuweg

 

Und nun sitze ich hier am Rechner und schreibe auf, was geschah.

Eine halbe Stunde war ich allein in der St. Michael zu Zeithain. Die letzten zehn Minuten stand ich mit dem Gesangbuch vorm Altar und sang lauthals wie früher im Kirchenchor im Heimatdorf (u.a. EKG 376). Die vorangegangenen 20 Minuten schlich ich leis summend und staunend durch das in rötlichem Holz ausgestaltete und nach Holz riechende Gotteshaus. Als erstes fiel mir eines der Patronatsbegräbnisse auf, auf dem der Kirchpatron unter einer Jakobsmuschel dargestellt ist; irgendjemand legte ihm eine echte auf den rechten Fuß.

Vor dem Kirchgang, zu dem ich von der Pfarrerin extra einen Schlüssel für die Kirche bekam, gab es zum Abend Pasta mit Spinat. Kurz nachdem ich alle meine Sachen – soweit notwendig – für die Nacht ausbreitete und nach dem Duschen.

Da saß ich und schrieb in die Kladde und kraulte den Kater, der Moritz heißt. Als ich mich auf der Gartenbank niederließ, war plötzlich die schwarze Katze da und wollte gekrault werden. Vorher strich sie mir ein paarmal recht eindringlich um die Beine. Ich hatte bis dahin nur grob mein Gepäck in die Herberge gebracht, in das Obergeschoß eines richtigen (und fachgerecht sanierten) Fachwerkhauses, an dessen Tür wie abgesprochen ein Schlüssel stak. Am Ende meines Weges wich ich an diesem Tag noch von der offiziellen Strecke ab, um mich im Discounter mit den Notwendigsten zu versorgen. Auf diese Idee hatte mich gut zwei Kilometer vorm Ziel ein Strafgefangener der JVA Zeithain gebracht, dessen Ansichten über den gelockerten und offenen Vollzug ich nie vergessen werde, mit dem ich – übrigens völlig unbekannterweise und ohne einen Namen zu wissen – meine letzte Rast ins Gespräch vertieft genoß. Wir saßen in der wohl ungewöhnlichsten Pilgerraststätte des gesamten Ökumenischen Pilgerweges, im offenen Vollzug der JVA Zeithain (siehe u.a. diesen Zeitungsbericht). Zur Beǵrüßung schon wurde mir ein gut gekühltes Wasser gereicht. Und ich war fast 200 km zu Fuß gegangen (Ha! Bis Merseburg sollten es 230 km sein, bis Vacha unter 500 km. Hahaha!), um freiwillig in den Zeithainer Knast zu gehen.

Schon vor dem Ortseingang von Glaubitz begann dieses schreckliche Stück Weg direkt an der B98 entlang, auf dem ich mich nur zu einer kurzen Pause entschließen konnte. Am Waldrand kurz vor der Bundesstraße hatte ich erst gesessen, etwa eine Stunde nach dem Mittagessen im Dorfkrug Roda, wo ich ein Einsiedler Schwarzbier und eine Pilgermahlzeit (Makkaroni mit Tomatensoße und Käse beim Getschwurpsele der Schalben vom Nachbargrundstück – diesen Klang können nur Schwalben) zu mir nahm. Den erreichte ich nebenbei gesagt nur über Umwege, weil ein früher noch vorhandener Feldweg schon vor zwei oder drei Jahren untergepflügt wurde.

Den Weg von Weißig bis Glaubitz könnte ich Birnen-, Pflaumen-, Eichel- und Kastanienweg nennen, von mindestens vier verscheidenen Pflaumensorten und zwei Birnensorten naschte ich. In Weißig war auch der meiste Anstieg der Strecke schon vorbei. Stetig bergauf ging es von Skassa aus. Frohen Mutes machte ich mich vor zhehn Uhr, nach Kaffee und Packen auf den Weg. Kurz nach sieben wurde ich im Pfarrhof Skassa wach, in diesem alten Bauernhaus mit den tief ausgetretenen Stufen und Steinen, die ich nutzen mußte, um in mein Zimmer zu gelangen. Mitten in der Nacht traf ich im Garten, im Pfarrhof einen Igel, als ich nach einem Gang zum Thron noch eine rauchte.

 

Oh, jetzt hab ich den Tag rückwärts beschrieben …

 

Der Emil

Der Verfasser des Blogs pilgert morgen weiter und dankt für’s Lesen.

P.S.: Die Strecke am 16. August 2016: Von Skassa nach Zeithain, 16 km in etwa sechseinhalb Stunden.
 
Das Gespräch in der JVA und meinen Sologesang vergeß ich nie. Und heute Nacht kommt nichts mehr.

© 2016 – Der Emil. Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
CC by-nc-nd Website (Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).

Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
Dieser Beitrag wurde unter #oekuweg, 2016, Erlebtes, One Post a Day abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

0 Antworten zu Rast im Knast. Nº 230 (2016).

  1. traumspruch sagt:

    …auch außerhalb des Vollzugs, ist Vollzug, manchmal ja, manchmal

  2. wildgans sagt:

    Wie stark. ALLES. Besonders der lauthalse Gesang in der Kirche. Hätte ich mich nie getraut!!
    Du läufst zu starker Form auf.

  3. Sofasophia sagt:

    Rückwärts erzählen hat was.
    Schlaf gut!

  4. Gudrun sagt:

    Schlaf gut.
    Vielleicht kannst du dir morgen wieder ganz viel Zeit nehmen. Es ist schön, wie du deinen Weg jetzt schon genießen kannst.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert