Nº 035 (2016): Er dreht seine Runde.

Geht langsam, bedächtig, schlendernd fast.

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Er dreht seine Runde. Geht langsam, bedächtig, schlendernd fast. Am Rand geht er, wie immer, damit ihn die Eiligen einfacher überholen können. Er jedenfalls hat es nicht eilig. Gleich wird er rechts abbiegen, das macht er immer, wenn er seine Runde dreht. Ab und zu bleibt er stehen, sieht sich um und sieht, was er jedesmal sieht. Nach der ersten Ecke kommt die Treppe, wie immer geht er sie hinunter; und an ihrem Fuß geht er gleich wieder nach rechts. Dort bleibt er stehen. Er grüßt andere, die er immer hier grüßt, läßt einmal Grüße an den Mann, ein anderes Mal Grüße an “die Frau Gemahlin” ausrichten. Nur selten haben die Menschen Zeit für mehr als einen Gruß, nur selten wird ein kurzes Gespräch über das Wetter oder andere Alltäglichkeiten geführt. Aber er ist’s zufrieden, genießt diese Minuten und geht dann langsam, bedächtig, fast schlendernd weiter.

Die Sonne scheint. Zwischen dem Gras der Wiese leuchten Klee und Löwenzahn. Keine Gänseblümchen, notiert er gedanklich. Und vergißt es gleich wieder. Obwohl er Gänseblümchen mag. Jetzt trifft er einen Mann, den er auf jeder Runde trifft, den er für dessen vollen, langen und immer wie frisch gekämmt aussehenden Bart ein wenig beneidet. Und um den wettergegerbten Lederhut. Irgendwo zuhause, auf dem Dachboden, liegt bei ihm eine ganz ähnliche Kopfbedeckung, die er sich im vorigen Jahr in Geiselwind an dem berühmten Truck-Stop gekauft hatte.

Ganz rechts am Rand geht er auf dem gepflasterten Weg. Er hat es nicht eilig. Er hat soviel Geld zusammengespart von seinen Gehältern und Boni, daß er sowieso nicht mehr täglich arbeiten müßte – kurz nur denkt er daran. Und auch daher macht er gerne Platz für die Eiligen, denn er geht langsam, bedächtig, fast schlendernd. Er genießt seine Freiheit, so langsam sich bewegen zu dürfen und zu können, und dreht seine Runde weiter.

Da ist sie auch schon fast vorbei. Er betritt das Haus, dessen Ruhe ihn sofort umfängt. Er schaltet das Radio wieder ein, das er vor seiner Runde abgeschaltet hatte. Kurz darauf legt er sich in sein Bett, in seinem Zimmer, hier im Hospiz.

 

 

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Entstanden aus den beiden Zetteln, die ich in der Nacht vorher notierte. Ausformuliert und tatsächlich zunächst wortwörtlich vom Kurrent-Manuskript in der Kladde übernommen, das ich am Nachmittag auf dem Bahnhof sitzend schrieb. Doch es gab da etwas, das zu Verwirrung führen konnte, daher habe ich nachgebessert. Fünf verschiedene Szenarien spukten mir durch den Kopf, aber dann wurde es ein ganz anderer Text. (Die Bilder zeigen Zettel und Manuskriptkladdenseiten.)

 

Der Verfasser des Blogs schleicht davon und dankt für’s Lesen.

Der Emil

P.S.: Positiv am 3. Februar 2016 waren das Wecken, die Gespräche, der im Bahnhof fließende Text.
 
Tageskarte 2016-02-04: XII – Der Gehängte.

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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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0 Antworten zu Nº 035 (2016): Er dreht seine Runde.

  1. petra sagt:

    Deine Texte berühren mich. Manchmal unangenehm, aufrüttelnd, nachdenklich stimmend und doch oft froh machend. Danke!

    • Der Emil sagt:

      Und all das schaffe ich mit ein paar Worten? Ich kann es kaum glauben, möchte mich am liebsten schamhaft zur Seite drehen und murmeln: „Ach Quatsch. Sind doch nur ein paar Sätze, nicht der Rede wert …“

      Danke.

  2. Sofasophia sagt:

    Sehr feine Miniatur.
    Ein kleine weise Geschichte über die Zeit.

  3. Gudrun sagt:

    Eines hat er nicht. Angst.
    Schön, wie dein Text Ruhe bringt.

    • Der Emil sagt:

      Das, liebe Gudrun, ist mir erst jetzt, da Du es so klar schreibst, bewußtgeworden. Stimmt, da war keine Angst; eine tiefe Ruhe und ein dankbares Genug lagen um mich, als ich schrieb.

  4. fraurebis sagt:

    Deine so lebendige Skizze versetzt mich auch heute noch in eine stimmige, friedliche Ruhe. Mich (be)trifft das, ganz unmittelbar, weißte ja. Zuerst wollte ich mich ja herausreden, weil ich nämlich links- und nicht rechtsherum laufe, üblicherweise:) Naja, es gilt die Augen zu öffnen. Das, nein: mein Leben zu ergreifen oder zu betreten, mit den richtigen Schritten in die richtige RIchtung im richtigen Tempo.
    Was ist richtig? Jedenfalls nicht: hasten. In jeder Hinsicht. Damit Blumen, Bäume und all das am Wegesrand (wieder) sichtbar werden können und der Weg an den richtigen Ort führt.
    Danke. Für alles.

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