In einem Zug geschrieben (233/132)

Traumfahrt

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Ist es vielleicht ein Fehler, daß er jetzt im Zug sitzt; in einer S-Bahn, die ihn anderthalb Stunden durch die Landschaft schaukelt, auf ein Ziel zu, das er jahrelang aus seinen Erinnerungen zu tilgen versuchte, aber nicht zu tilgen vermochte? Wird es, wie er befürchtet, eine schmerzliche Reise in die fernere und jüngere Vergangenheit? Oder werden sich Hoffnungen, heimliche! Hoffnungen erfüllen lassen? Wiedereinmal ist er mit der Ungewißheit beschäftigt, hat dieses flaue Gefühl in Magen und Knien, dieses Zittern in den Händen und in der Stimme. Kleine Bäche aus Schweiß bilden sich und rinnen den Rücken hinunter, unter dem Hemd, bis zum Hosenbund. Er ist müde, denn vor Aufregung hat er in der vergangenen Nacht nicht geschlafen. In einer reichlich unbequemen Haltung schläft er dann bereits nach dem zweiten Halt ein.

Er träumt ziemlich viel ziemlich wirres Zeug. Von den ersten Fahrten mit seinem ersten Auto, mit dem er auch bei dem einen oder anderen Open-Air-Festival war mit einem winzigen Zelt, in dem zu sechst geschlafen wurde, neben- und miteinander. Vom nie entzündeten Lagerfeuer am Ostseestrand, an dem er im Leben nie saß, dessen salzwasseriger Duft ihn aber im Traum in der Nase kitzelt … und er weiß im Traum auch, daß seine Freundin damals so roch und schmeckte: frisch und salzig und sandig wie ein Ostseestrand. Er träumt von der Leutaschklamm und einem Bergwerk bei Wernigerode. Von der Begegnung im Weißenfelser Schloßpark. Im Traum sitzt er im Gasthaus am Palmenhaus in Pillnitz und bei Jan Ullrich im Weingut, das nicht mehr in Seußlitz, sondern neben dem Hotel Kornpforte am Deutschen Eck ist.

Raum und Zeit und Personen sind im Traum nichts Festes, sondern können sich ganz nach dem Geschmack und Wunsch des Träumers verändern, verbinden, verbessern, entkleiden. Deshalb gibt es in seinen Träumen so viele nackte Weiber (es sind keine Modellfigürchen, sondern dralle, runde Weiber). So viele … So viele sind es dann doch nicht; nur erscheinen die Wenigen in vielen Szenen, auch in solchen, in die sie nicht passen oder gehören. Die ganze Welt ist vollkommen durcheinandergewirbelt: Er kann fliegen, taucht in den Alpen, fährt mit dem Rasenden Roland quer durch die Fränkische Schweiz. In Köln wird ihm Altbier serviert, in der Pfalz muß er Wodka trinken. Mit dem Pferdewagen, mit dem er immer einmal in Irland herumfahren wollte, reist er von der Mainquelle an der Saale entlang bis zur Donaumündung in die Adria. Immer ist ein bildschönes Weib an seiner Seite und nie fehlt es an Geld.

So träumt er sich im Zug sitzend in eine Wohlfühlwelt.

Als er erwacht, steht der Zug auf dem Startbahnhof. Er ist verwirrt, weiß nicht, was ihm wie geschehen ist. Sein Telefon verrät ihm, daß er beinahe sieben Stunden geträumt haben muß. Er war also zwei Mal an seinem Zielort und hat das Aussteigen verschlafen … verträumt. Jetzt ist er wieder hier. Nocheinmal hinfahren? Dazu reicht die Zeit nicht mehr. Und die Verabredung war vor über vier Stunden. Ganz froh, um die Ungewißheit herumgekommen zu sein, geht er heim.

Er muß und möchte Erinnerungen und Träume nicht gegen Realität und Enttäuschung eintauschen. Und vergißt dabei wiedereinmal, daß es auch andere Ergebnisse hätte bringen können.

 

 

Der Emil

Der Verfasser des Blogs schleicht davon und dankt für’s Lesen.

P.S.: Positiv am 20. August 2015 war ein Wiedersehen.
 
Tageskarte 2015-08-21: Die Vier der Schwerter.

© 2015 – Der Emil. Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
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Über Der Emil

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0 Antworten zu In einem Zug geschrieben (233/132)

  1. Sofasophia sagt:

    Nichterlebt steht bei den Tags. Schade irgendwie.
    Ich mag die Geschichte, vielleicht weil sozusagen nichts passiert. 😉

  2. Manchmal ist es gar nicht schlecht, wenn man etwas verpaßt, verträumt, vereschläft, nicht bearbeitet….. Oft lösen sich dan Probleme in Luft auf, oder es sind gar keine mehr….

  3. Gudrun sagt:

    Sag mir, Emil, wieso träumen Männer immer von jungen Weibern, egal wie alt sie selber sind?
    Ich hatte vor Jahren einen richtig guten (männlichen) Freund. Den hätte ich das sicher fragen können, aber er ist nicht mehr da.
    Gruß von nebenan.

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