Das 15. Türchen: Weihnachts-CDs.


Immer wieder Überraschungen

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Meinen Adventskalender hier widme ich allen, die kämpfen, allen, die krank sind, allen, die Unterstützung benötigen.
 
Ich wünsche all diesen Menschen und mir eine im wahrsten Sinne des Wortes wundervolle Weihnachtszeit. Alle meine Kerzen brennen für alle, die Hoffnung brauchen.

 

 

Da draußen ist noch immer kein Winter. Aber es muß schon Winter sein. Schließlich hat mir Sabine ja den ersten Advent verschönert, sogar so schön gemacht, wie noch keiner vorher war. Die Zeit hier im Krankenbett fließt so gleichförmig dahin, so langsam – und doch sind Tage und Wochen wie in einem Wimpernschlag vergangen. Noch immer weiß ich nicht wirklich, wieso ich hier bin. Noch immer hat mir niemand gesagt, was überhaupt passiert ist. Und ich erinnere mich an nichts. Nur in meinen Träumen geschehen manchmal Dinge, bei denen ich mir ganz sicher bin, daß ich sie vor meinem Aufenthalt hier erlebt habe. Es taucht immer wieder eine Frau auf – habe oder hatte ich eine Frau? Und ein kleiner Junge, den sie immer Peterchen nennt. Aber diesen Jungen habe ich in so verschiedenem Alter gesehen … Mit Windeln und ohne. Ist das mein Sohn oder der Sohn dieser Frau. Verdammt. Wieso weiß ich das alles nicht? Ich muß Sabine danach fragen.

An sie kann ich mich doch auch erinnern, und an das Essen von heute mittag: Kartoffelbrei mit Jägerschnitzel und Möhrensalat. Oder daran, daß gestern einige der Geräte hier abgebaut wurden, unter anderem. Warum nicht an die Dinge vor dem Krankenhaus? Ich klingle nach der Schwester. Es ist Kathrin, die erscheint, nicht meine Lieblingskrankenschwester. “Ist Sabine heute in der Nachtschicht?” “Nein”, sagt Kathrin, “die ist bös erkältet und kann nicht arbeiten.” “Ohjeh, und gerade sie wollte ich fragen …” “Ist ihre Lieblingskraft, ja, die Sabine? Naja, ist ja auch kein Wunder, wenn man eventuell in demselben Ort geboren wurde.” Ich hoffe, daß deshalb keine Eifersüchteleien unter den Schwestern aufkommen. “Ja, nein, ach …” Ich schweige wohl besser. Kathrin wuselt noch ein wenig an den Kabeln und Schläuchen, sagt aber nicht mehr viel. Ich grübele über meine Träume, in denen auch weihnachtliche Szenen vorkamen. Schwibbogen zum Beispiel, ganz verschiedene: der eine orientalisch anmutend mit Kamel und Beduinen, einer mit einer Kirche und einer Kurrende, ein dritter mit Bergmann und Klöppelfrau und Schnitzer. Na klar, auch Räuchermänner und Leuchter und schneebedeckte Wälder.

Plötzlich steht Kathrin wieder am Bett, ohne ihren grünen Kittel. Schick sieht sie aus in dem weißen Pullover. “Beim Gesundschlafen sind sie aber sehr fleißig.” Ich reibe mir kurz über die Augen und setze mich auf. “Ach Kathrin, wissen Sie, was soll ich denn sonst tun? Und wenn ich träume, dann habe ich in meinen Träumen wenigstens soetwas ähnliches wie Erinnerungen.” “Erinnerungen?” “Ja, an die Zeit, bevor ich hier war. Was hier geschieht, das weiß ich ziemlich gut. Aber von vorher …” Schwester Kathrin lächelt. “Den Kopfverband haben Sie ja nicht umsonst. Und wer eins auf die Rübe kriegt, dem fehlen dann eben manchmal ein paar bis alle Erinnerungen. Vielleicht hilft ihnen das hier ja weiter”, sagt sie und überreicht mir einen Beutel. “Wir wissen ja, daß Sie eine Beziehung zum Erzgebirge haben könnten, und da haben wir Kolleginnen mal einiges zusammengesucht.”

Ich beginne auszupacken. Das erste, was ich in die Hand bekomme, ist ein winziger, na gut, ein kleiner Schwibbogen. Einer mit Kirche und Kurrende. “An der Seite ist ein Schalter, damit können Sie die Lämpchen anschalten. Und ein paar Ersatzbatterien haben wir auch dazugepackt.” Ich probiere es gleich aus und stelle den leuchtenden Bogen auf den Nachttisch. Ein paar CDs sind dabei mit Weihnachtsmusik. Erzgebirgisches, weihnachtliche Klassik, Kinderweihnachtslieder, eine Weihnachts-CD von Tarja Turunen. Erstaunlich, denn gerade diese CD scheine ich zu kennen. Fragend sehe ich Schwester Kathrin an: “Schade, daß ich mir die Musik nicht …” Sie unterbricht mich. “Ach, warten Sie. Das habe ich bei mir zuhause noch gehabt, aber irgendwie ist’s in meiner Handtasche geblieben.” Sie zieht ein Kabel aus ihrer Tasche, nein, ein Netzteil, und dann reicht sie mir noch einen Discman. Meine Güte, so ein Ding habe ich ja seit Jahren nicht mehr gesehen! “Und die hier, die hat Sabine noch dazugegeben”, sagt Kathrin und läßt quietschpinke Kopfhörer vor meiner Nase baumeln. “So, dann haben Sie viel Freude damit. Ich muß jetzt endlich heim. Tschüß bis morgen!” Weg ist sie.

Ich sitze im Krankenhausbett, schaue den kleinen Schwibbogen an und lege ziemlich planlos ohne genau hinzusehen eine CD in das Ufo. Dann schließe ich den Strom an und die Kopfhörer und drücke auf Play. Ich weiß nicht, wieso ich vom Personal Weihnachtsgeschenke bekomme. Ich weiß nicht, ob ich all die Sachen besser nicht angenommen hätte. Aber die Lichter des Schwibbogens zwinkern mir zu. Ich setze langsam die Kopfhörer auf, aus denen die letzten Töne eines Liedes erklingen. Anton Günther singt seinen Schneeschuhfahrermarsch.

 

 

 

Drei Stränge fügen sich gerade zusammen, verflechten sich zu einem Zopf: der alte Mann und der Patient haben beide mit Peterchen zu tun. Das war so nicht geplant – nicht bewußt von mir geplant.

 

Der Emil

Der Verfasser des Blogs schleicht davon und dankt für’s Lesen.

P.S.: Positiv am 14. Dezember 2014 war ein weiteres, sich wirklich ungeplant anfügendes Teil.
 
Tageskarte 2014-12-15: Die Drei der Kelche.

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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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0 Antworten zu Das 15. Türchen: Weihnachts-CDs.

  1. Sofasophia sagt:

    Da wird ein Weihnachsroman. Hab ich dir nicht irgendwann mal geschrieben, dass – wenn man losschreibt – die Figuren ein Eigenleben sichtbar machen?
    Q. e. d.! 😉

  2. Elvira sagt:

    Du bist, zumindest in diesem Fall, ein Pantser . Ich habe leider keine Ahnung, ob es ein deutsches Wort dafür gibt. Es besagt, dass jemand zwar die Grundidee einer Geschichte im Kopf hat, und dann mehr oder weniger einfach drauf los schreibt. Dabei entwickelt sich die Geschichte manchmal wie von Zauberhand und führt den Schreibenden quasi die Feder. Sofasophia hat das in ihrem Kommentar quasi schon beschrieben.

  3. Gabi sagt:

    Sehr schön, wie sich das entwickelt….

  4. Pingback: (2017: 353) Das 19. Türchen | Gedacht | Geschrieben | Erlebt | Gesehen

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