Feuer und Flamme im hohen Alter
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Meinen Adventskalender hier widme ich allen, die kämpfen, allen, die krank sind, allen, die Unterstützung benötigen.
Ich wünsche all diesen Menschen und mir eine im wahrsten Sinne des Wortes wundervolle Weihnachtszeit. Alle meine Kerzen brennen für alle, die Hoffnung brauchen.
Wie immer schaltet der alte Mann am Abend seinen Lieblingsfernsehsender an, setzt sich in seinen Sessel und freut sich auf den Glühwein. Doch halt, so geht das nicht. Es ist ja heute zweiter Advent, das haben heute doch alle gesagt: Die Adventskerzen fehlen also. Ohne Kerzen ist Advent kein Advent. Ah ja, da stehen sie ja, oder besser: Da steht er ja, sein Adventskranz. Der ist zwar nicht so schön wie einer von denen, die seine Frau früher immer gebunden hatte, aber es ist ein Adventskranz, sein Adventskranz. Mühsam erhebt sich der alte Mann, schlurft zur Kommode und trägt den Kranz beinahe feierlich zum Couchtisch. Dort steht er nun neben der Tasse mit dem noch dampfenden Glühwein. Nur die Kerzen müssen noch angezündet werden. Fieberhaft sucht er nach dem Feuerzeug, nach Streichhölzern. Er hatte doch … Ach, ja, im Kasten der Kommode liegt bestimmt noch sein goldenes Zippo, das Feuerzeug, das ihn fast 40 Jahre seiner Raucherzeit begleitet hat. Jetzt ruht es seit … seit … seit … jedenfalls schon so lange dort im Kasten, wie er hier im Seniorenheim lebt. Eingezogen ist er zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau, da war er grad 82. Dann bin ich heute, überlegt der alte Mann, mit meinen 97 Jahren ja auch schon fünfzehn Jahre hier, und schon 15 Jahre Nichtraucher. Aber sein Feuerzeug hat er immmer behalten und hat es auch immer gepflegt und betriebsfähig gehalten.
Ein zweites Mal schlurft er zur Kommode, findet sein Feuerzeug und probiert es aus. Sicher ist sicher, und das Feuerzeugbenzin verdunstet ja immer mal. Aber heute hat der alte Mann Glück, munter springt ihm beim zweiten Versuch schon eine kleine, aber stabile Flamme entgegen. Die brennenden Adventskerzen wird er also auch gleich haben, und sie werden ihm gewiß zum richtigen Adventsgefühl verhelfen. Zurück am Tisch probiert er doch erst vom Glühwein. Und der ist fast so lecker wie der, den seine liebe Frau ihm immer machte. Dann beugt er sich über den Tisch, stützt sich mit der linken Hand darauf ab und versucht, die zwei ersten Kerzen am Adventskranz zu entzünden. Naja, der Docht ist ziemlich dick vom Wachs umschlossen. Es dauert eine ganze Weile, ehe die Kerze zu brennen beginnt. Aber was ist das? Das ist nicht die Flamme, die er von den Kerzen kennt, von früher. Nein, das ist sonderbar. Das ist irgendetwas anderes. Brennende Tropfen fallen auf die Tischdecke, brennen dort rußend weiter und verbreiten einen scharfen Geruch. Auspusten läßt sich das Feuer auch nicht, der halbe Tisch steht jetzt in Flammen. Und daneben steht der alte Mann schreckensstarr und sieht vor seinem Auge Bilder aus Dresden, in dem er zu Kriegsende war. Und er hört es krachen und hört die Schreie wieder wie damals und hat den Brandgeruch wieder in der Nase. Er muß husten…
Plötzlich ist Sven neben ihm, der Pfleger. Der kippt jetzt den Glühwein in die Flammen, wirft dann die Bettdecke über den brennenden Tisch und klopft hektisch darauf herum. Kurze Zeit später ist auch eine Ärztin da, setzt den alten Mann in einen Rollstuhl und schiebt ihn ins Untersuchungszimmer. Unterwegs spricht sie noch mit zwei Feuerwehrleuten, die wie aus dem Nichts auftauchen. Ach, denkt der alte Mann, wenn die nur damals in Dresden gekommen wären; was wollen die hier, wo doch nichts brennt?
Nach der Untersuchung steht Sven wieder da und fährt den alten Mann in ein ganz anderes Zimmer. Unter Protest nur setzt er sich da vor den Fernseher, der nicht seiner ist, in einen Sessel, der nicht seiner ist. Nur auf dem Tisch, da steht doch sein Adventskranz? Der alte Mann schaut sich mißmutig um; nein, das hier ist nicht sein Zimmer. Sven steht am Tisch und erzählt ihm gerade von einem Zimmerbrand, den der gute Pfleger gerade noch so im Keim ersticken konnte. Der alte Mann bemüht sich jetzt, Sven ganz genau zu verstehen: “… Den Adventskranz hättest Du nicht anzünden dürfen! Das sind elektrische Kerzen, schau her!” sagt der Plfeger, “Nur einschalten mußt Du die!” Und da leuchten die zwei Kerzen am Adventskranz auch schon. Der alte Mann wundert sich, denn das, was Sven ihm da erzählt, weiß er doch! Auf dem Kranz mit den künstlichen Kerzen muß nichts angezündet werden! Das weiß er doch noch, auch mit 97 ist er noch lange nicht – wie nennen sie das, wenn man sich an fast nichts mehr erinnern kann? – er ist ja nicht dement! “Und deshalb, so leid mir das auch tut, muß ich Dir Dein Feuerzeug wegnehmen. Zumindest bis morgen, vielleicht bekommst Du es dann wieder. Und sei froh, daß ich eine so gute Nase habe! Sonst wäre ich an Deinem Zimmer vorbeigegangen und niemand wäre rechtzeitig bei Dir gewesen. Aber so hatten wir alle nochmal Glück, großes Glück, weißt Du das? Nur Dein Zimmer ist unbewohnbar für einige Zeit. Und jetzt gib mir bitte das Feuerzeug.”
Der alte Mann schaut den jungen Kerl an seinem Tisch fragend an. Von welchem Feuerzeug spricht der da und wer ist das, wie kommt der überhaupt hier herein? Seinen Frau, seine Frau muß ihm helfen: “Luise! Luise, komm doch mal! Du kannst doch nicht so lange in der Speisekammer bleiben? Luise! Sind das die Russen, sind die schon hier? Luise?”
Sven steht noch immer neben dem alten Mann, der nach Rauch riecht, nach seiner schon lange verstorbenen Frau ruft, und weiß nicht recht, was er jetzt tun soll. Den zweiten Advent hatte er sich anders vorgestellt.
Reine Fiktion, bis auf den Namen des Pflegers. Denn bei Sven lese ich immer sehr gern mit. Und so ist diese Geschichte ihm gewidmet, stellvertretend für alle Menschen “in der Pflege” …
Der Verfasser des Blogs schleicht davon und dankt für’s Lesen.
P.S.: Positiv am 6. Dezember 2014 waren ein gutes Gespräch und ein guter Einkauf.
Tageskarte 2014-12-07: Der Bube der Schwerter. (Eine Chance kommt auf mich zu, aber auch kräftiger Gegenwind in Form von Kritik.)
© 2014 – Der Emil. Text unter der Creative Commons 4.0 Unported Lizenz
(Namensnennung, keine kommerzielle Verwertung, keine Veränderung).
Eine gute Geschichte, die mir gefällt.
Und, ich danke für den Blogtipp.
Einen schönen 2. Advent wünsche ich.
Das ist seltsam. Ich hatte echt Zweifel, ob diese Geschichte „funktioniert“, ob die Wendung nicht zu vorhersehbar wäre …
Vielen Dank.
Mir nicht. Ich war ganz in dem alten Mann.
Gut gemacht.
Hach seufzend …
Nochmal vielen lieben Dank.Einen schönen zweiten Advent wünsche ich Dir und Deinen Lieben.
Für dich auch.:-)
Ja, liebevoll, achtsam erzählt. Ich mag es, wie du dich in den alten Mann eindenkst und einfühlst und ihn ernst nimmst. Danke für den feinen Text!
Hm. Hab ich mich in ihn eingedacht? Oder: Ist er in mir? Ich glaube letzteres, er ist in mir, wie Peter, wie der Patient … Irgendwann wollen sie alle raus, sich mitteilen, mitgeteilt werden, dann schlägt die Stunde der fließenden Geschichte. Und manchmal sitz‘ ich eben da und weiß nicht, ob das, was diese Figuren preisgeben, so, wie sie es preisgeben, „funktioniert“.
Vielleicht mehr eingefühlt als eingedacht? Dann kann es am besten fließen?
Ich meine es ernst. Sie alle sind in mir. Wie auch viele in anderen sind. Ich lasse sie nur hinaus.
So habe ich es noch nie überlegt. Ist vielleicht bei mir mit den Romanfiguren auch irgendwie so. Sie sind Teile von mir. Sie leben in mir. Ich bin ein Mehrpersonenhaus … und das wusste ja schon Pessoa. Also, dass wir alle mehrere sind. Schreibende geben ihnen Raum. Toll irgendwie. Danke fürs Draufaufmerksammachen!
Wenn ich es recht bedenke: Vielleicht sind Peter, der Patient, der alte Mann, vielleicht auch der Sohn einunddieselbe Person — und dann ist die tote Mutter die Schwiegermutter von Luise, Peters Mutter … (Dein Wort „Romanfiguren“ brachte diese Möglichkeit in mir zum Aufblitzen.)
Du hast eine unglaubliche Gabe so zu schreiben, dass jede Geschichte funktioniert. Danke für den schönen Text! Und einen schönen 2. Advent! 🙂
Oh, ich bin noch immer ganz errötet … Vielen Dank.
Ich weiß, das soeben an Soso geantwortete klingt nach „channeling“, doch genau so fühlt sich das Schreiben oft an.
Wieder ein wunderbarer Text. Ich bewundere Dein Talent, Dir solche Geschichten auszudenken und sie in solch wunderbare Worte zu fassen.
LG Gabi
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