Die andere Seite

Irgendwie beendet. Eine unfertige Fortsetzung.

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Mein Vater hat schonwieder diesen alten, löcherigen und kaputten Pullover an. Mutter sollte den doch schon lange wegwerfen! Warum tut sie das nicht? Achtet eigentlich immernoch auf peinliche Ordnung und Sauberkeit, wie damals, als ich jeden, wirklich jeden Abend das Kinderzimmer tiptop aufräumen mußte. Und wehe, das hat nicht geklappt! Wieso heult der Alte jetzt plötzlich? Weil ich was zu seinem Pullover gesagt hab‘? Meine Güte, der soll sich nicht so haben. Er hat’s doch gut! Muß sich nicht mehr wie ich tagtäglich von einem Chef schikanieren lassen und unbezahlte Überstunden leisten.

Ich schiebe Vater von der Tür weg in die Wohnung. Heute riecht es unangenehm nach Rauch. Kann der nicht wie sonst am offenen Fenster rauchen? Was? Was erzählt er da immer von Else? Und wo ist sie überhaupt? Ich frage ihn, wo Mutter ist, und während ich versuche, seine Antwort zu verstehen, leere ich den überquellenden Aschenbecher und reiße die Fenster in Wohnzimmer und Küche auf. Hoffentlich wird er jetzt nicht zum Pflegefall, er benimmt sich wie einer mit Alzheimer! Mutter soll noch im Bett … Etwas spät für’n Mittagsschlaf? Aber so’ne alte Frau – soll sie ruhig schlafen.

Wenn ich mir vorstelle, daß ich mit meiner Frau noch dreißig Jahre zusammenbleiben soll. Die ist in den letzten Wochen schon sehr seltsam geworden. Zickt nur noch rum, daß ich ihr nichtmehr genügend Aufmerksamkeit widme, sie nicht mehr verstehe. Na und? Ich habe genug Ärger auf Arbeit, ich brauch zuhause nicht auch noch welchen. Nein, an das Handy geh‘ ich jetzt nicht. Judith weiß, daß ich mittwochs nachmittags keine Zeit für sie habe, weil ich da bei meinen Eltern bin. Sie soll froh sein, daß meine Frau noch glaubt, daß ich auch montags hier bin!

Vater heult noch immer. Und immer wieder erzählt er was von Mutter. Ja, verdammt, ich weiß, daß die noch im Bett liegt! Ich mach‘ doch auch leise. Außerdem, wenn sie jetzt noch schläft, dann muß ich ja heute nicht hierbleiben. Dann kann ich ja doch noch zu Judith … Moment. Was erzählt er da? Ich fasse Vater an den Schultern, sehe ihm ins Gesicht. Nochmal bitte. Mutter liegt im Bett. Klar. Wieso seit Sonntag schon? Was? Wie? Sonntag. Heute Mittwoch. Seit Sonntag. Im Bett.

Ich lasse Vater stehen, wo er steht, und gehe ins Schlafzimmer. Die Rollos sind noch unten. Es riecht seltsam. Mutter liegt mit offenen Augen im Bett. Sie sieht so klein aus. Sie ist kalt.

Tot. Mutter.

Aber sie kann doch nicht so einfach sterben und Vater alleinelassen? Mutter!?

 

 

Der Emil

Der Verfasser des Blogs schleicht davon und dankt für’s Lesen.

P.S.: Positiv am 1. Juni 2014 waren der funktionierende Plan für den Vormittag, die reibungslose Fahrt.
 
Tageskarte 2014-06-02: Die Drei der Stäbe.

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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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0 Antworten zu Die andere Seite

  1. Sofasophia sagt:

    ooooh, das ist gut. also, ich meine, gut, diese andere seite zu zeigen. in wenigen sätzen den sohn zeigen. gedankenblitze.
    toll gemacht!

  2. wildgans sagt:

    Familienaufstellung im Sandkasten eines Therapeuten, mit Playmobilfigürchen, das stelle ich mir grad vor- und wie da was anzuordnen wäre. Diese Judith möchte ich am Wenigsten sein- ach ne, die zickige Gattin des Verlogensohnes, die auf gar keinen Fall- lauter verbaute Leben?
    Meine Fantasie ist angeheizt!

  3. Gabi sagt:

    Interessant, der zweite Teil aus der Sicht des Sohnes, der sichtlich genervt ist, weil Vater nicht so “funktioniert”, wie er es gerne hätte. Dem er nicht zuhört, ja es nicht einmal versucht. Er braucht Ewigkeiten, bis er überhaupt mal draufkommt, was los ist, weil er nur mit sich und seinen Problemen beschäftigt ist. Die Reaktion, als er die tote Mutter sah, kühl und ohne wirkliche Trauer. Weil sie, die immer da war, immer alles erledigt hat und sich um alles gekümmert hat, sich nun einfach “davongemacht” hat. Könnte mir vorstellen, dass der nächste Gedanke war, wie arm er nun sei, weil er nun den Vater am Hals hat.
    Großer Leidtrangender, der Vater, in dessen Haut ich nicht stecken möchte.
    Tolle Story, wirklich gut gemacht. Wenn auch traurig, bin ich überzeugt, dass es so etwas im Leben öfter gibt, als man es vermuten würde.

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