Wie die Dörfer hießen (Nº 250)


Wie verhindere ich Vergessen? Durch Erinnern.

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Alt-Sammit. Ein Dorf bei Krakow am See. Selbständiges Dorf, mit eigenem Konsum, aber ohne Bäcker und Fleischer. Deren Produkte holten die Bauern häufig aus der nahen Stadt, es war ja nicht weit mit dem Fahrrad. Manchmal auch mit dem Traktor oder dem Pferdewagen. Strom gab es, auch Leitungswasser. Aber Abwasser? Die Höfe hatten eigene Sickergruben. Und das Toilettenhäuschen quer übern Hof hinten an der Scheune.

Vorm Schloß – einst von Neubauern und Umsiedlern bewohnt, irgendwann beherbergte es auch einen Laden, an den ich mich erinnere, weil dort auch Brot und Wurst verkauft wurden – die Baracke der LPG, in der auch immer die Eier abgeliefert wurden. Hinterm Schloß der Derliener See, in dem ich als Kind badete und schwimmen lernte. Einmal aber trat ich mir dort eine Scherbe ein. Soviel Blut, soviel Schmerz. Außer der Erinnerung und einer Narbe unterhalb des Knöchels ist nichts davon geblieben.

Die seltsamen Ortsnamen rufen ab und zu noch eine Art Heimweh in mir wach, obwohl ich dort nie zuhause war und auch meine Großeltern aus dem Pommerschen geflohen waren (über den zugefrorenen Bodden, wie Oma immer erzählte). Rum Kogel (mit dem Fahrrad besucht), Kirch Kogel, Groß Tessin, Groß Grabow und Klein Grabow, Seegrube.

Und dann kommt auch die Erinnerung an das Rübenverziehen, an das Kartoffellesen, an die Tabakfelder. Und an den Hofhund, die Hühner und Gänse und Bienen, an das gerittene Schaf und die Schweine im Stall und die Katzen. An die dichten Rhodedendren, die einen lauschigen Platz im Hof umstanden gleich neben dem Brunnen mit seiner quietschenden Pumpe, und eine kleine Laube vor neugierigen Blicken schützten. Im Garten vorm Haus, zur “Straße” zu, wurden Blumen gehegt und gepflegt. Es gab einen kleinen Teich (eine Vogeltränke) und viele Gartenzwerge.

Das letzte Haus im Dorf, ganz am Ende. An einem Feldweg, der ins Nirgendwo führte, vorher aber noch an zwei verwunschenen Teichen vorbei. Vom Weg zu den Teichen ging es 30 oder 40 Meter zu einem verfallenden Bootssteg durch Mais- oder Tabakpflanzen. Stundenlang saß ich dort und hörte den Fröschen zu. Enten gab es dort auch und Teichrosen und Fische und Libellen.

Auf der anderen Seite des Weges, auf der Weide für die Kühe fror der Tümpel im Winter zu, manchmal sogar durch bis zum Grund. Im Winter versuchte ich dort, mit uralten Schlittschuhen auf dem Eis zu laufen – ich habe es in meiner Erinnerung nie geschafft.

Aber spätestens als Erstklässler bin ich dort nach dem Frühstück aus dem Haus und aus dem Hof gestürmt. Die Glocken und meine erste Armbanduhr (?) zeigten mir an, wann Zeit zur Rückkehr und zum Mittagessen war. Nach dem Mittagsschlaf verschwand ich wieder – und wenn ich es nicht offiziell durfte, so schlich ich durch die losen Latten am Zaun.

Ein Fünf- oder Siebenjähriger alleine in der Wildnis unterwegs, ohne Handy, unüberwacht, einfach über Felder streichend und am Wasser sitzend. Erste Übungen mit einem uralten, riesengroßen 28er Damenfahrrad. (Ob das heute noch geschieht? Sind die Eltern doch viel, viel ängstlicher geworden.)

In der Küche auf dem Ziegelboden (oder waren es nur seltsam gefärbte Fliesen?) ein Propangasherd und ein Kohleofen. Streuselkuchen, in den ein Hauch Muskat gehörte. Ein Wohnzimmer und eine Gute Stube. Schlafen unterm Schilfdach, gleich neben der Räucherkammer, im Bett ein Strohsack als Matratze. Beim Stopfen habe ich selbst mitgeholfen. Und immer die blau-weiß karierte Bettwäsche …

 

Unsortierte Erinnerungen, festgehalten, um weiter verfolgt zu werden. Bei Gelegenheit wieder hineinzutauchen in die Jahre 1968 bis 1975. Trauwandeln in der Mecklenburger Seenplatte.

Der Emil

Der Verfasser des Blogs schleicht davon und dankt für’s Lesen.

P.S.: Positiv am 6. September 2013 waren ein Lebenszeichen und der Buchfink.

© 2013 – Der Emil. Der Text steht unter der Creative Commons 3.0 Unported Lizenz
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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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0 Antworten zu Wie die Dörfer hießen (Nº 250)

  1. puzzle sagt:

    Schön Erinnerungen, schöne Bilder,

  2. tonari sagt:

    Da kommen nun auch in mir Erinnerungen hoch. In Krakow am See habe ich meinen ersten Urlaub gemacht.Die Großeltern hatten dort einen Bungalow gemietet, der der PGH gehörte, in der mein Opa arbeitete. Ich glaube, es war der Sommer vor meiner Einschulung. Wir ruderten, ich lernte in ruhigem Gewässer endlich schwimmen (in der Ostsee kämpfte ich immer gegen die blöden Wellen) und ich genoss, dass wir jeden Tag essen gingen. Das war Schlaraffenland.

    • Der Emil sagt:

      Und einmal mit der „Undine“ eine Rundfahrt auf dem Krakower See gemacht?

      • tonari sagt:

        Jetzt, wo Du es schreibst: Na klar gehörte zum Urlaub auch eine Schiffsrundfahrt. Und geangelt haben wir auch.

        • Der Emil sagt:

          Vorm Seehotel auf der Terasse diese Alueisbecher (unterschiedlich angefärbt). Und damals fuhren wir noch mit der Reichsbahn hin, in Waggons, in denen die Fenster heruntergezogen und mit Lederriemen auf einem „Bippus“ fixiert wurden, hinter einer Dampflok …

  3. Sofasophia sagt:

    eine wunderbare spurensuche. ich hör dir gerne zu und hoffe auf eine fortsetzung. natürlich animierst du auch eigene alte erinnerungen.

    dass kinder viel mehr freiräume hatten, denke ich auch oft, wenn ich mich an meine vorschulzeit im nahen wald erinnere.

    andererseits gab es eben früher weniger menschen, weniger kriminalität etc. das sind fakten, die sich nicht schönreden lassen. das „warum?“ wäre ein anderes thema.

    einen schönen samstag dir!

  4. Xeniana sagt:

    Ach so ein schöner Text und ein Glück auf solche erinnerungen zurückgreifen zu können. Mein Opa lebte in einem Gutshaus in Bösewig. Da wurde später ein film gedreht über die DDr .—-weiß leider nicht mehr wie der hieß (werd ich mal rausfinden) schweineställe, pferde ,Hühner waren für mich, als Halle-Neustädter Stadtpflanze eine schöne erfahrung.

    Vielen Dank für diesen schönen Text!

  5. Karl sagt:

    Ich sollte die Beiträge wieder hier lesen. Sie wirken anders, intensiver, als in den Mails, obwohl die Texte die gleichen sind, aber offenbar nicht die selben.

  6. Gabi sagt:

    Du hast das alles so schön bildlich beschrieben, dass ich das Gefühl hatte, es mitzuerleben.
    Danke für die Reise in Deine Vergangenheit. Und schön, dass Du Dich noch so gut daran erinnerst.
    LG Gabi

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