5. Türchen: Lebenshilfe (#340)

Seltsames Papierstück vom Weihnachtsmarkt

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Einige Jahre ist es schon her, da war ich um die Weihnachtszeit herum in einer Stadt, die ich damals (noch) nicht kannte. Den dortigen Weihnachtsmarkt besuchte ich auch, war er doch damals noch anders als all die, die ich aus meiner Heimat, dem Erzgebirge, kannte. An jedem Stand schoben und schubsten sich schau- und kauflustige Menschen in wirklich dichtem Gedräge. Aber es sah alles ein wenig anders aus: Kaum Räuchermännchen und Pyramiden, dafür viel Plastekram und viel Fernöstliches.

In einer der Hütten saßen Mitarbeiter der Geschützten Werkstätten der Lebenshilfe und werkelten. Es wurden Strohsterne gefertigt, Aureliussterne gefaltet und zusammengesteckt. Viele Menschen standen davor und schauten den manchmal etwas ungeschickt scheinenden Fingern bei der Arbeit zu. Den Faltern und den Zusammensteckern war die Freude anzusehen, wenn wieder ein Stern glücklich gelang und bei den anderen in den Körben auf dem Verkaufstresen landete.

Genauso war die Enttäuschung zu erkennen, wenn ein Teil mißlang. Sogar fließende Tränen waren zu sehen, wenn zwei- oder dreimal nacheinander etwas oder alles nicht paßte oder wieder kaputtging. Dann trösteten sie einander, dann umarmten sie sich und streichelten die Tränen weg. Den Menschen vor dem Stand zeigten sie, die Behinderten, was Mitgefühl und Mitleid(en) sein können.

Sonderbarerweise verließen in solchen Momenten viele der Zuschauer ihre Plätze, und selten wurde ausgerechnet dann einer der angefertigten Sterne gekauft.

Immer dann aber, wenn nur drei oder vier Leute dastanden, immer dann, wenn die meisten Menschen vor zuviel Rührung von der Hütte wegliefen, kam ein weißhaariger Mann aus dem Hintergrund nach vorne. Sonst saßer hinten am Tisch und zerschnippelte mit einer Schere Papier.

In jenen Momenten schaute er die Menschen vor dem Stand an, sah dann einen lange und durchdringend an, bis die- oder derjenige zurückblickte. Einmal wurde ich nervös und fühlte mich angestarrt und beobachtet, bis ich endlich reagierte.

Der alte Mann stand vor mir, blickte mir noch immer in die Augen und drückte mir dann ein Stück des zeschnittenen Papiers in die Hand: «Aber erst zuhause ansehen, sonst putt!» Meine Hand ließ er erst los, nachdem ich das versprochen hatte. Vorsichtig steckte ich das Papierstück zu den zwei gekauften Aureliussternen in einen Beutel.

Ich schaffte es, die Sterne ins Hotel zu bringen, ohne daß sie mir zerdrückt wurden. Als sie später auf dem Fensterbrett lagen, wollte ich den Stoffbeutel zusammenfalten und wegräumen – doch irgendetwas störte. Ja, da war ja noch das “Geschenk”.

Mein Versprechen, es erst zuhause anzusehen, konnte ich nicht ganz einhalten – aber für eine Weile war das Hotel mein Zuhause. Daran dachte ich und daran, wie vorsichtig es mir der Mann gegeben hatte. Genauso vorsichtig holte ich das seltsame Stück Papier hervor. Es war gefaltet, jetzt erst erkannte ich den Scherenschnitt. Noch vorsichtiger faltete ich es auseinander. Und zwischen meinen Händen spannte ich vier wunderschöne Engel auf, die sich an den Händen fassen und je zu zwei’n gemeinsam ein Licht halten … (Leider sind sie bei irgendeiner Trennnung bei einer meiner Exfrauen geblieben.)

 

Ich wünsche euch eine besinnliche und friedvolle Zeit.

Der Verfasser des Blogs schleicht davon und dankt für’s Lesen.

P.S.: Positiv am 4. Dezember 2012 waren eine klare Ansage und die Redaktionssitzung.

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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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0 Antworten zu 5. Türchen: Lebenshilfe (#340)

  1. Follygirl sagt:

    Eine schöne Weihnachtsbegegnung…

  2. Himmelhoch sagt:

    Emil, vielleicht können die sogenannten Behinderten menschliches Miteinander viel besser als die sogenannen Normalos, weil alles unverstellt und ohne Berechnung passiert.

    • Der Emil sagt:

      Es war damals schon seltsam, daß immer dann, wenn es Emotionen zu sehen gab, die Marktbesucher den Stand verließen. Und ja, es geschieht ohne Berechnung, ohne darauf zu achten, wie sich irgendetwas auf das eigene Ansehen auswirkt. Nicht Fassade, sondern Sein war zu sehen.

      • Himmelhoch sagt:

        Emil, ich lese gerade „Über die Schwelle“ von einer spastisch gelähmten Frau – und da werde mir mal wieder die Augen geöffnet, wie gut es den Gesunden geht.

  3. Hallo Emil ich grüße dich!
    Danke für diese Erzählung. Sie wärmt das Herz und beschenkt die Seele.
    Danke für dein Teilen.
    Mit ganz lieben Grüßen aus Oberösterreich!
    M.M.

    • Der Emil sagt:

      Damals habe ich (glaube ich jedenfalls) auch zum ersten Mal etwas von dieser Lebenshilfe gesehen, bewußt wahrgenommen. Und ich wundere mich immer wieder, wie lang solche Kleinigkeiten in mir nachwirken und arbeiten.

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  5. Gudrun sagt:

    Eigentlich schlimm, wenn alle lieber emotionslos sein wollen. Ich glaube, dadurch möchte man sich unangreifbar machen. Wenigstens auf diesem Gebiet.

  6. M. sagt:

    Na sag mal, wie viele Exfrauen hattest du denn?

  7. Gabi sagt:

    Eine wunderbare Geschichte.
    Diese Menschen haben wahrscheinlich kein Problem, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen. „Wir“ denken vielleicht erstmal viel zu viel nach, bevor wir reagieren.
    lg Gabi

  8. Herbstbaum sagt:

    Ich habe mich selber dabei ertappt, wie ich vergangene Woche einen Geburtstagsgast (meine Tante) fragte, ob ich sie vorzeitig nach hause bringen sollte. Sie hatte starke Atemnot. Ihre Antwort war Nein, zu hause wäre sie nur alleine. Da ist mir klar geworden, daß ich ihre Not nicht sehen wollte. Sie ist geblieben 🙂

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