Nur aus Gewohnheit (Nº 278 #oneaday)

Und den Namen hat er längst vergessen

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Da steht er nun, schaut ziemlich bedeppert drein und weiß nicht, was er sagen soll. Direkt an der Kasse im Supermarkt. “Vier Euro achtunddreißig.” Als die Kassiererin das sagt, sucht er schon verzweifelt nach seiner Börse.

Sie ist nicht in der Hosentasche, in die sie gehört. Daß sie nicht zuhause liegen kann, das weiß er genau: Vor wenigen Minuten erst hatte er in der Straßenbahn seinen Fahrschein hervorholen und dem Kontrolleur zeigen müssen.

Das Kleingeld trägt er immer lose in den Hosentaschen – rechts die Kupfermünzen zu ein, zwei und fünf Cent, links alle größeren Münzen. Doch wie er auch zählt, es sind nur ein Fünfziger und zwei Zehner. Und rechts nur ein Fünfer, zwei Zweier und zwei Centstücke.

Für diese einundachzig Cent gibt es die Wurst oder einmal Milch. Aber er ist jetzt nicht in der Lage, das zu errechnen. Also läßt er, der Verzweiflung nahe, Brot, Milch, Vogelfutter, Margarine und Wurst liegen und geht hängenden Kopfes ohne den Einkauf aus dem Markt.

Zwanzig Euro, das gesamte Geld, das er wöchentlich für Essen und Trinken ausgeben kann, waren in dem Portemonnaie. Der Verlust tut zwar weh, irgendwie wird es trotzdem gehen. Schlimmer sind Bankkarte, Krankenkassenkarte, Monatsfahrschein – alleine der schlägt, weil er ihn doch ganz dringend benötigt und der Monat erst begann, mit knapp 50 Euro zu Buche. Abwesend schleicht er aus dem Gebäude.

Plötzlich steht er wieder vor der Straßenbahn. Es ist die, mit der er vor knapp 25 Minuten hier ankam. Woher er das weiß? Er kennt den Fahrer von früher. Sie hatten sich ein paar mal in einer Szenekneipe getroffen. Vor fünf oder sechs Jahren. Danach begegneten sie sich nur noch auf der Straße. Aus Gewohnheit grüßt man sich noch immer.

Versunken in Gedanken und ohne Hoffnung, die Börse wiederzufinden, steigt er ein. Suchend, die Augen fest auf den Boden gerichtet, geht er zu dem Platz durch, auf dem er vorhin bei der Kontrolle saß. Ganz vorn, direkt hinter der Fahrerkabine. Wie meistens, wenn er in der Straßenbahn sitzt.

Er schaut vor dem Sitz nach, neben dem Sitz. Dann erschrickt er, denn er wird von der sich öffnenden Tür zum Fahrerplatz zur Seite gedrängt. Damit diese Tür ganz geöffnet werden kann, muß er sich in die Sitzbank quetschen. Doch es wird nicht ganz geöffnet, nur die Hand des Fahrers langt heraus und hält ihm seine Börse hin.

“So ein Schwein wie Du muß einer erstmal haben. Die hat mir vorhin jemand an der Endstelle reingereicht. Da sind sogar noch zwanzig Euro drin!” Völlig verdattert nimmt er, was ihm gehört. Alles noch drin, alles. Und daß der Fahrer, dessen Namen er längst vergessen hat, sich noch an seinen erinnern konnte …

Still weinend fährt er drei oder vier Stationen mit, ehe er sich die Tränen aus dem Gesicht wischt. Jetzt erst kann er an die Fahrertür klopfen und laut “Danke!” rufen, bevor er aussteigt.

Der Verfasser des Blogs schleicht davon und dankt für’s Lesen.

P.S.: Positiv am 4. Oktober 2011 waren eine Einladung, ein Gespräch und ein Hinweis auf mein wirklich ungehöriges Benehmen.

© 2011 – Der Emil CC by-nc-nd der_emil(at)arcor(dot)de

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Über Der Emil

Not normal. Interested in nearly everything. Wearing black. Listening. Looking. Reading. Writing. Clochard / life artist / Lebenskünstler.
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0 Antworten zu Nur aus Gewohnheit (Nº 278 #oneaday)

  1. Inch sagt:

    Ach, das geht ans Herz. Ich konnte beim Lesen richtig mit fühlen und -leiden

  2. anniefee sagt:

    Schöne Geschichte.
    Bis vor 2 Jahren dachte ich auch, „was weg ist ist weg“, konnte dann aber feststellen, dass die Mitmenschen durchaus nicht alles behalten, was sie finden.
    Wenn ich genauer überlege, konnte ich sogar schon sehr viel an Theken und in Fundbüros wieder entgegennehmen. Das ist wirklich mal ein Anlass, Optimist zu werden..

  3. Himmelhoch sagt:

    Emil, mir kamen auch fast die Tränen, so schön ist das Ende. – Ich bin ja auch schon mehrfach beklaut worden in Verkehrsmitteln – aber einmal, als ich die Tasche mit allem drin vergaß, weil ich so viele Beutel zu schleppen hatte, wurde auch alles abgegeben. – Ich bedankte mich, indem ich zu den Leuten hinfuhr und was mitnahm.

  4. sucherin sagt:

    Gedacht oder erlebt ? – Egal, sehr schön und mitreißend geschrieben. Danke.

  5. minibares sagt:

    Wenn du das wirklich erlebt hast, die Nöte, die Sorgen, die Pein, die Ungewissheit, soviel auf einmal, das auf einen einstürzt. Sogar blinde Verzweiflung.
    Und dann dieses wundervolle, liebevolle Ende, dass doch noch an die Menschen glauben lässt.
    Erleichterte Grüße an dich ♥

  6. Gudrun sagt:

    Lieber Emil,
    Mir kamen jetzt auch die Tränen, wie in letzter Zeit oft, wenn ich solche Geschichten lese und höre. Was sind schon 20 Euro wird vielleicht manch einer sagen, aber manchmal ist das von dem ganz Wenigen ganz viel.

    Liebe Grüße von der Gudrun

  7. fudelchen sagt:

    Diese Angespanntheit kann ich sehr gut verstehen und mitfühlen.
    Es freut mich, dass du alles wiederbekommen hast. Es gibt halt noch ehrliche Menschen.

    *drückdich* ♥ Marianne

  8. ja, das ist eine schöne Geschichte. sogar mit glücklichem Ende. ^^

  9. Follygirl sagt:

    — och, wie schön!!!
    LG, Petra

  10. Auch mir geht die Geschichte ans Herz. Und sie zeigt, dass die meisten Menschen gut sind und sich nicht auf Kosten anderer bereichern. Das macht mir immer wieder Mut.

    So long,
    Corinna

  11. Gabi sagt:

    Eine wirklich sehr schöne und anrührende Geschichte.
    Egal, wer derjenige ist, dem das passiert ist. Es ist schön, dass sie so gut ausgegangen ist und auch dass derjenige erleben durfte, dass es nicht nur schlechte Menschen gibt.

    lg Gabi

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